1998 hätte Präsident Jelzin während der Verhandlungen mit Helmut Kohl dem Deutschen beinahe ein Exemplar der in den Archiven der Lomonossow-Universitätsbibliothek aufbewahrten Gutenberg-Bibel geschenkt. Foto: RIA Novosti / Vladimir Rodionov
Der Streit um die Schneerson-Bibliothek
hält an. Präsident Putin hat versprochen, die Sammlung derLubawitscher Rabbiner russischen Juden zu
übergeben. Das Jüdische Museum und das Zentrum für Toleranz in Moskau sollen
die Bestände ausstellen können.
Der Rechtsstreit um die Rückgabe der Schneerson-Bibliothek illustriert sehr
anschaulich die allgemeine Problematik um die Rückgabe von auf russischem
Territorium verbliebenen Kulturgütern. Deren Umfang kann jeder erahnen, der
zumindest einmal das Puschkin-Museum für bildende Künste in Moskau oder die
Petersburger Eremitage besucht hat. Beide gehören unumstritten zu den weltweit
bedeutendsten Kunstmuseen. Das Problem ist hier, dass
die Museumssäle die unzähligen Kunstwerke überhaupt nicht aufnehmen können und
viele von ihnen schon seit Jahren kein Licht mehr gesehen haben.
Das betrifft vor allem die sogenannten „Beutekunst“ – Kunstwerke, die von sowjetischen
Soldaten aus deutschen und von den Nationalsozialisten besetzten Gebieten als Entschädigung
für die im Zweiten Weltkrieg erlittenen Verluste verschleppt wurden. Formal
galten die etwa 900.000 Kunstwerke aus den
Besatzungsgebieten als Ausgleich für die Schäden, die Hitlers Schergen beim
Überfall auf die Sowjetunion angerichtet hatten.
Über den tatsächlich Umfang der „Beutekunst“ gibt es unterschiedliche
Schätzungen. Während die russische Seite
von 250.000 Kunstwerken und 1.300.000 Büchern spricht, beziffern deutsche
Experten die Beschlagnahmung von Kulturgütern auf eine Million Kunstwerke und
4.600.000 Bücher. Sie werden überwiegend in Archiven russischer Museen und
Bibliotheken gelagert.
Auf die eine oder andere Weise kam es seit dem Kriegsende immer wieder zur
Rückgabe von Kulturgütern. So kehrten im Jahr 1958 der Pergamon-Altar aus
Berlin und 1240 Kunstwerke aus den Beständen der Gemäldegalerie Dresden zurück
nach Deutschland. 2002 wurde die Rückgabe der Bleiglasfenster
aus der Marienkirche in Frankfurt Oder vereinbart.
Dennoch lagert die Mehrzahl der
Kunstgegenstände nach wie vor in den Speichern russischer Museen. Ein nach wie
vor wunder Punkt in den deutsch-russischen Kulturbeziehungen ist die sogenannte
Baldin-Sammlung aus der Bremer Kunsthalle. Der russische Offizier und Architekt
Viktor Baldin entdeckte 1945 im Keller des Schlosses Karnzow ausgelagerte
Kunstwerke der Bremer Kunsthalle. Er packte sie, um sie vor der Zerstörung zu
retten, in einen Koffer und tauschte auf seinem Rückweg in die Sowjetunion weitere
Radierungen und Zeichnungen, die seine Kameraden als Souvenir mitgenommen
hatten, ein. 1947 übergab er die Sammlung dem Moskauer Architekturmuseum. Von den 1970er
Jahren an bis in die 90er setzte Baldin sich für die Rückgabe der Zeichnungen
an die Bremer Kunsthalle ein, allerdings ohne Erfolg. Die Behörden lehnten sein Anliegen mit verschiedenen Begründungen ab.
Im Jahr 1998 wurde das Föderale Gesetz № 64-FS „Über die
infolge des Zweiten Weltkriegs in die UdSSR verbrachten und sich im Hoheitsgebiet
der Russischen Föderation befindenden Kulturgüter“ verabschiedet, nach dem alle
von den sowjetischen Truppen aus den besetzten Gebieten verschleppten
Kulturgüter Eigentum Russlands sind. Trotz der Versuche des damaligen
russischen Präsidenten Boris Jelzin, die Verfassungswidrigkeit dieser
Verordnung nachzuweisen, ist das Gesetz bis heute vollständig in Kraft. Die Gegner
der Rückgabe haben noch ein anderes Dokument auf ihrer Seite. Die
Irreversibilität von Entscheidungen über verschleppte Kulturgüter war eine der
Bedingungen der Wiedervereinigung Deutschlands im Jahre 1990.
Das Thema ist bei Weitem nicht auf die deutsch-russischen Beziehungen
beschränkt. Es ist ein Problem von internationalem Ausmaß. Jedes Museum der Welt,
sei es das British Museum oder der Louvre, zählen zu ihren Sammlungen auch
hinsichtlich der Eigentumsfrage strittige Exponate. Versuche, die jeweiligen Eigentumsverhältnisse
zu klären, würden eine weltweite Umverteilung der Museumsbestände auf den Plan
rufen. „In allen Museen, auch in der Dresdener Gemäldegalerie,
finden sich Kunstgegenstände verschiedenster Völker der Welt. Über ihren
Standort entscheidet nicht ihre nationale Herkunft, sondern ihr Schicksal“,
erklärt Irina Antonowa, Direktorin des Moskauer Puschkin-Museums für bildende Künste und
konsequente Gegnerin der Revision von Entscheidungen über verschleppte
Kulturgüter, die in Russland weit verbreitete Position.
Es gibt eine Möglichkeit, Kunst- und Kulturgüter auch ohne Revision des russischen oder internationalen Museumsrechts zurückzugeben. Der Präsident eines Landes kann ein Kunstwerk einem anderen Land einfach schenken. 1998 hätte Präsident Jelzin während der Verhandlungen mit Helmut Kohl dem Deutschen beinahe ein Exemplar der in den Archiven der Lomonossow-Universitätsbibliothek aufbewahrten Gutenberg-Bibel geschenkt. Beschlüsse dieser Art sind jedoch allein dem Staatsoberhaupt vorbehalten und ein Ausdruck seines guten Willens.
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
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