Der zukunftige Patriarch Kyrill I. und Papst Benedikt XVI., 2006. Foto: Getty Images/Fotobank
Der Rückzug Papst Benedikt XVI. vom Heiligen Stuhl war eine Überraschung für die gesamte christliche Welt, die russisch-orthodoxe Kirche nicht ausgenommen. Angesichts der sichtbaren Annäherung der beiden christlichen Kirchen, die als Erfolg des deutschen Papstes gewertet wird, ist man sich in Fachkreisen einig: Eine Verschlechterung der Beziehungen zur Orthodoxie ist nicht zu befürchten, wer auch immer zum neuen Oberhaupt der katholischen Kirche gewählt wird.
Vor dem Hintergrund großer Herausforderungen, die nach neuen Weichenstellungen verlangten, überlasse der Papst sein Amt einem jüngeren und tatkräftigeren Nachfolger, erklärte der Leiter des Außenamtes des Moskauer Patriarchats, der Metropolit von Wolokolamsk Ilarion. Die Entscheidung Papst Benedikt XVI., zu diesem Zeitpunkt vom Heiligen Stuhl zurückzutreten, zeuge von persönlicher Courage und Demut. Die orthodoxe Kirche zeige sich dem scheidenden Papst gegenüber dankbar für sein Verständnis der Probleme, die einer vollständigen Normalisierung der Beziehungen zwischen Orthodoxie und Katholizismus, vor allem im Westen der Ukraine, im Weg stünden.
Noch am Vortag der Rücktrittserklärung von Papst Benedikt XVI. hatte Metropolit Ilarion auf die positiven Tendenzen in den Beziehungen zwischen der russischen Orthodoxie und der römisch-katholischen Kirche hingewiesen, die mit der Wahl Josef Ratzingers zum Papst eingeleitet worden waren. „Es bleibt zu hoffen, dass sein Nachfolger diesen Weg fortsetzen wird und das Verhältnis zwischen Orthodoxen und Katholiken sich weiter nachhaltig zum allgemeinen Wohl der christlichen Welt festigt“, sagte der Metropolit.
Eine Würdigung des Pontifikats von Benedikt XVI. sprach auch der Patriarch von Moskau und der ganzen Rus Kyrill I. aus. Die Position des deutschen Papstes zu den wichtigsten Herausforderungen der heutigen Welt verdiene ebensolchen Respekt wie sein standfestes Bekenntnis zur apostolischen Tradition.
„Die große Linie steht“
Die von Russland HEUTE befragten Experten – Vertreter beider christlicher Kirchen und der theologischen Fachwelt – stimmten darin überein, dass, wer auch immer neuer Papst werde, von einer Verschlechterung der Beziehungen zur russischen Orthodoxie nicht auszugehen sei.
„Die katholische Kirche erkennt die Vertiefung der kirchlichen Gemeinschaft und des Dialogs zwischen den Christen als eine ihrer wichtigsten Aufgaben an und ist dieser Überzeugung auch in der Vergangenheit gefolgt. Die Kircheneinheit ist ein erreichbares Ziel, auch wenn sich schwer vorhersagen lässt, wie lang der Weg dahin sein wird. Ob wir über unsere nahe Zukunft oder das nächste Jahrhundert sprechen – die Wahl des neuen Papstes ändert an dieser Perspektive überhaupt nichts“, so die Einschätzung des Direktors des Informationsdienstes der Römisch-katholischen Diözese der Gottesmutter in Moskau Priester Kyrill Gorbunow.
Dennoch sei es fraglos von Bedeutung, wer der neue Papst werde. Im Falle, dass der neue Pontifex Maximus möglicherweise kein Europäer sein werde, sei damit zu rechnen, dass ihm Russland weniger vertraut ist als Johannes Paul II. oder Benedikt XVI. „Aber die große Linie steht, grundlegende Veränderungen in unseren Beziehungen wird es nicht geben. Die Geschichte und der göttliche Plan wiegen stärker als einzelne Personen“, ist der Vertreter der katholischen Kirche sicher. Beide Kirchen stünden heute vor neuen Aufgaben. In vielen Ländern entwickle sich das Christentum zu einer religiösen Minderheit. Eine Festigung der Beziehungen zwischen Katholiken und Orthodoxen sei ein inneres Bedürfnis der einen wie der anderen Glaubensgemeinschaft, so Priester Kyrill abschließend.
Zeit für neue Impulse?
Der orthodoxe Publizist und Protodiakon Andrej Kurajew empfiehlt, mit Prognosen über die Entwicklung der Beziehungen der beiden Kirchen abzuwarten, bis der Heilige Stuhl neu besetzt sei. „Wenn der nächste Papst aus Lateinamerika oder aus Afrika kommt, dann werden andere wichtige Fragen auf seiner Agenda stehen“, so der Vordenker der russisch-orthodoxen Kirche.
Der Leiter des Zentrums der Geografie der Religionen Roman Silantjew hält eine Fortsetzung der Annäherung zwischen Rom und dem Moskauer Patriarchat für sehr wahrscheinlich, wenn der neue Papst ein Europäer ist. Die Russisch-Orthodoxe Kirche und die katholische Kirche bildeten weltweit betrachtet ein Bündnis, auch wenn es einzelne ungeklärte Fragen gebe, etwa das Verhältnis zur Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche. „Benedikt XVI. hat die Beziehungen zur Orthodoxie auf einen guten Weg gebracht. In Russland hofft man nun, dass sein Nachfolger sein Vermächtnis fortsetzt. Wenn der neue Papst Europäer ist, dann können wir in dieser Hinsicht zuversichtlich sein. Kommt er aus Lateinamerika oder Afrika, dann könnte das einen Wandel in unseren Beziehungen bedeuten. Aber die katholische Kirche selbst ist an einem Papst europäischer Herkunft interessiert, schließlich sind die größten Herausforderungen der Kirche derzeit in Europa konzentriert“, schätzt der Theologe.
Alexej Judin, Redaktionsmitglied der russischen katholischen Enzyklopädie, bestätigt, dass die Beziehungen zwischen den Kirchen sich unter Benedikt XVI. gefestigt haben. Ratzinger als Person, ein brillanter Theologe, habe eine große Ausstrahlung in der orthodoxen Welt gehabt. Heute sähen sich beide Kirchen vor globale Probleme gestellt, die sie einander näher brächten, nicht voneinander trennten. Die russische Kirche weite ihre missionarische Tätigkeit aus. Dabei sei sie auf pastorale gegenseitige Unterstützung angewiesen. „Der Europäer steht dem christlichen Osten, darunter auch der russischen Orthodoxie, in mancher Hinsicht nahe. Wer auch immer jedoch das Erbe Benedikt XVI. antreten wird, er wird offen sein müssen für Neues. Möglicherweise würde ein „überraschender“ Papst – eine Lateinamerikaner oder Afrikaner – sein Amt mit einer noch nicht da gewesenen Energie füllen und dem Dialog neue Impulse geben. In jedem Fall haben wir Anlass, der Entwicklung unserer Beziehungen positiv entgegenzublicken“, glaubt der Religionshistoriker.
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