Die große Fastenzeit dauert sieben Wochen, vom Ende der Masleniza bis zum orthodoxen Ostern. Foto: Lori / Legion Media
Im russisch-orthodoxen Kalender gibt es vier, den Jahreszeiten entsprechende, Fastenzeiten. Die längste ist die am 18. März begonnene große Fastenzeit. Sie dauert sieben Wochen, vom Ende der Masleniza bis zum orthodoxen Ostern. Während der Fastenzeit soll man beten und sich
beim Essen einschränken. Grundsätzlich werden aus dem Speiseplan alle Fleisch- und Milchprodukte gestrichen. Erlaubt sind Mehlspeisen, Gemüse und Obst. Die Speisen werden mit Pflanzenöl zubereitet, das im Volksmund daher auch „Fastenöl" genannt wird. Am Ende der dritten und sechsten Fastenwoche darf man Fisch essen, und an den Samstagen und Sonntagen sogar ein bisschen Rotwein trinken.
Die letzte Fastenwoche, die Karwoche, ist die strengste. Von Montag bis Mittwoch darf nur Rohkost ohne Fett gegessen werden, am Donnerstag, dem Tag des Letzten Abendmahls, mit Öl zubereitetes Essen und Wein, am Freitag gar nichts und am Samstag vor Ostern darf man nur Gekochtes ohne Fett zu sich nehmen. Das Osterfest beendet das große Fasten.
In Russland gibt es die wirklich Gläubigen, die sich vor der Fastenzeit beim Priester Rat einholen und sich an alle Regeln halten. Und es gibt diejenigen, die ihren „Organismus entschlacken" oder abnehmen wollen, die es als Experiment sehen oder einfach nur fasten, weil es alle machen. Russland HEUTE hat mit Vertretern der verschiedenen Richtungen gesprochen.
Dmitrij Jerochin (32): Ein Experiment aus Neugier
Ich habe nur einmal gefastet, vor drei Jahren. Ich hatte schon immer diejenigen beneidet, die sich so mit dem Essen einschränken konnten. Schon lange wollte ich mich auch auf die Probe stellen und wissen, was es damit auf sich hat.
In meiner Familie hat sonst niemand gefastet und ich musste mir manchmal das Essen extra zubereiten. Wenn ich die Lebensmittel im Geschäft aussuchte, habe ich immer genau die Inhaltsstoffe auf der Verpackung gelesen, um nicht aus Versehen Eier oder Milch zu mir zu nehmen. In der Arbeit war es mit Fastenspeisen auch schwierig, deshalb ernährte ich mich hauptsächlich von Nüssen und getrockneten Früchten.
Ich habe die ganze Fastenzeit durchgehalten, ohne von den Regeln abzuweichen, obwohl es mir in den letzten zwei Wochen nicht gut ging. Danach wurde mir klar, dass ich mit meinen experimentellen Motiven und meinem Ehrgeiz den eigentlichen Sinn des Fastens beleidigte. Deshalb halte ich dieses Experiment eher für eine Schande als für einen Erfolg. Seitdem versuche ich nicht mehr, durch verschiedene Aktionen meine „Korrektheit" zu beweisen. Ich bemühe mich einfach, ein bisschen aufrichtiger zu meiner Umgebung und mir selbst zu sein.
Sergej Kolidenko (37): Glaube braucht keinen Beweis
Mein erstes Fasten ist sehr lange her. Damals war es weniger aus Glaubensgründen, denn aus Liebe zu meiner Frau. Sie war schon damals sehr gläubig und hielt alle Fastenzeiten ein. Ich erinnere mich, dass ich solche Angst hatte zu hungern, dass ich mir immer die doppelte Portion nahm und überhaupt viel mehr aß als gewöhnlich. So kam es, dass ich nicht nur nicht abnahm, sondern im Gegenteil fünf Kilo zunahm. Aber damals wollte ich einfach nur ausprobieren, wie das geht.
Hinterher war mir dann klar, dass man für den Glauben an Gott nicht irgendwelche Beweise suchen muss. Als ich aufhörte nach irgendeinem Trick bei der Sache zu suchen, war mir um einiges leichter. Das Fasten ist jetzt für mich keine Qual mehr, sondern im Gegenteil eine langersehnte geistige Reinigung. Ich versuche, nicht fernzusehen und mich nicht von der ewigen Hetzerei ablenken zu lassen. Während dieser Zeit entsteht eine ungewöhnliche Leichtigkeit und Zufriedenheit und die Einsicht, dass du alles richtig machst.
Heute ist das Fasten für unsere Familie eine ganz normale Sache und es stellt sich gar nicht die Frage, ob wir es tun oder nicht. Wir frieren für den Winter viel Gemüse ein, was dann während der Fastenzeit übrigens sehr gut tut. Wir haben zwei Kinder, aber für sie gilt das Fasten natürlich nicht. Sie trinken Milch und essen Fleisch. Wenn unsere ältere Tochter sieben Jahre alt wird, werden wir ihr erzählen, was das ist. Und sie kann dann selber entscheiden, ob sie fasten will oder nicht.
Vater Wladimir, Priester: Gelegenheit zur geistigen und körperlichen Reinigung
Allen, die fürchten, dass sie das Fasten nicht durchhalten, kann ich sagen, dass man sich natürlich davor fürchten muss, wenn man es als Hungern ansieht. Ich selbst freue mich immer auf die Fastenzeit, für mich ist es die Gelegenheit sich geistig und körperlich zu reinigen. Mit leerem Magen betet es sich besser. Für die orthodoxen Christen ist die Fastenzeit eine Zeit, in der man seine Beziehung zur Welt und zu Gott überdenkt und Gelegenheit hat an sich zu arbeiten. Wir sündigen ja häufiger in Gedanken als in Taten. Und da ist die Enthaltsamkeit von Sünden um einiges schwieriger. Das Gehirn ist eine solch feinstoffliche Substanz, die lässt sich nicht so einfach beherrschen. Das betrifft uns alle, mich eingeschlossen.
Ich rate meinen Gemeindemitgliedern immer, während der Fastenzeit an sich selbst zu arbeiten, für die eigene Seele zu kämpfen. Anfangs erscheint es vielen schwer, weil sie es wie Folterqualen erleben. Aber so ist es nicht, über sich hinauszuwachsen ist ja immer schwer. Man darf nicht darüber nachdenken, was man im Bauch hat, sondern man sollte an das denken, was man im Kopf hat.
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