Der Diktatwettbewerb „Totales Diktat“ fand erstmals im Jahr 2004. Foto: PhotoXPress
Die Veranstaltung „Totales Diktat" findet seit mittlerweile zehn Jahren statt und war von Anfang an bissiger Polemik ausgesetzt. Alles scheint umstritten: die Ziele, die Mittel und selbst die den Diktaten zugrundeliegenden Texte, die von zeitgenössischen modernen Autoren verfasst werden. Wie bewerten Sie als Linguist die Veranstaltung – ist sie ein sinnvolles Projekt oder nur eine von vielen PR-Kampagnen?
Das Diktat ist zweifellos sinnvoll. Erwachsene Menschen nehmen daran teil, nicht weil man sie dazu zwingt, sondern aus reinem Interesse. Sie wollen sehen, wie sie abschneiden. Es ist wunderbar, dass die Leute sich einfach so mit Sprache beschäftigen, aus Vergnügen und ohne Zwang.
Eine Sache verwundert mich allerdings: Eine Auswertung zum Diktat im vergangenen Jahr hat ergeben, dass sehr viele Teilnehmer abschreiben. Da fragt man sich: Wozu? Es wäre ja verständlich, wenn man die russischen Bürger zur Teilnahme zwingen würde, aber so?
Unangenehm aufgefallen ist auch die inadäquate Reaktion der Medien. Anstatt sich von der Veranstaltung begeistern zu lassen und sich zu freuen, dass so viele mitgemacht haben, lamentierten die Journalisten über unsere Defizite in der sprachlichen Bildung. Die Medienresonanz war viel zu ernst.
Man muss Spaß haben können ohne diesen bitteren Beigeschmack, ohne verletzte Eitelkeiten und Komplexe.
Schon bald, im Mai, müssen Schüler ihre Abschlussprüfungen in russischer Sprache ablegen. Wozu lernt ein Schüler heute überhaupt noch Rechtschreibung? Jeder Jugendliche wird Ihnen sagen: Ich lese im Internet, da setzt man keine Kommas, aber in der Schule erwartet man das von uns.
Je stabiler eine Gesellschaft, desto mehr Bedeutung hat es, die Regeln der Schriftsprache zu beherrschen. In den 1990er-Jahren verloren Sprache und Bildung allgemein deutlich an Stellenwert. Heute aber kehrt alles zurück, viele Unternehmen bieten Russisch-Trainings für ihre Mitarbeiter an. Die 1990er, die den Begriff der Regel selbst aufweichten, wurden von den mehr oder weniger stabilen 2000er-Jahren abgelöst.
Vor 20 Jahren noch ging es vor allem darum, sich von der Masse abzuheben. Heute möchte man sein wie alle anderen. Dazu muss man die Verhaltensstandards kennen, unter anderem auch die sprachlichen Normen. Es reicht allerdings nicht aus, sich nur in der Schriftsprache sicher bewegen zu können. Ein gebildeter Mensch sollte auch andere Sprachvarietäten als die Standardsprache beherrschen. Das Wichtigste überhaupt ist die Fähigkeit, den Schalter umlegen zu können und zu verstehen, welche Sprachebene in welcher Situation angemessen ist. Darin drückt sich soziale Anpassungsfähigkeit aus.
Die Beziehung zur Sprache hat sich im Laufe der vergangenen 20 Jahre mehrfach gewandelt, die Didaktik des Sprachunterrichts dagegen ist gleich geblieben. Heute werden immer mehr Stimmen laut, die fordern, den Sprachunterricht zu reformieren. Was sollte Ihrer Auffassung nach verändert werden?
Das Ziel des sowjetischen Schulsystems war es, den Kindern die Regeln der Grammatik und Rechtschreibung beizubringen. Daran hat sich prinzipiell nichts geändert. Sprachliche Bildung in diesem Sinne ist ohne Zweifel wichtig, aber darüber hinaus sollten auch andere Lernziele verfolgt werden, allem voran die rhetorische Entwicklung. Die Kinder müssen lernen zu reden, man muss mehr mit ihnen sprechen.
Denn unsere Gesellschaft hat ernsthafte Kommunikationsprobleme. Wir beobachten ein sehr hohes Aggressionspotenzial und das Unvermögen, einander zuzuhören. Die Leute lesen einen Text und versuchen nicht einmal, ihn zu verstehen. Sie sehen das Wort „Tschetschenien" oder „Ukraine" und den weiteren Text nehmen sie schon nicht mehr auf. Sie haben ihre eigenen Texte in den Köpfen.
In den vergangenen ein bis zwei Jahren hat sich dieses Problem verschärft. Die Grenzen zwischen dem „Wir" und den „Anderen" werden immer undurchlässiger. Früher gab es diese Feindseligkeiten, diese Abspaltung nicht. Diese Ressentiments, die Unmöglichkeit, sich als ein Volk wahrzunehmen oder auch nur in einer Hinsicht Konsens zu erlangen, stellen uns heute vor sehr ernsthafte Probleme.
Wie lässt sich daran etwas ändern?
Wir müssen mehr miteinander reden. Aber das ist ein Rezept, das den Menschen erst einmal schmackhaft gemacht werden muss. Die Tendenz der letzten Zeit führt leider weg vom Gespräch. Es gibt wenig direkten Dialog. Und das ist weitaus bedrohlicher als der heftigste Streit.
Der Diktatwettbewerb „Totales Diktat“ fand erstmals 2004 an der Staatlichen Universität Nowosibirsk statt. Bis 2010 war es eine lokale Veranstaltung mit jährlich etwa 200 Teilnehmern.
2010 verfasste der bekannte Science-Fiction-Autor Boris Strugazki den Text für das Diktat, und die ganze Stadt wurde zur Teilnahme eingeladen.
Das Diktat im Jahr 2011 war bereits eine russlandweite Veranstaltung, den Text verfasste Dmitri Bykow. Autor des „Totalen Diktats“ 2012 war Sachar Prilipin, rund 15 000 Sprachinteressierte nahmen am Wettbewerb teil.
2013 löste der Wettbewerb einen Skandal aus. Der von Dina Rubina verfasste Text entfachte heftige Kritik, weil die Autorin nicht in Russland lebt und in ihren Büchern, allerdings nicht im Diktat selbst, gossensprachliche Ausdrücke vorkommen. Im Gebiet Uljanowsk tauschte der Gouverneur im letzten Moment den für das „Totale Diktat“ vorgesehenen Text gegen eine Erzählung eines lokalen Autors aus.
Insgesamt nahmen in diesem Jahr 32 280 Menschen am Wettbewerb teil. Die beste Note, eine „Fünf“, bekamen weniger als 400 Teilnehmer. Dieses Ergebnis entspricht dem statistischen Durchschnitt: Mit einer „Fünf“ werden jährlich nur ein bis zwei Prozent der Diktate bewertet.
Dieser Beitrag erschien zuerst bei Ogonjok.
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