Europa wird „russifiziert“

Die Anzahl der russischen Touristen in Europa wächst. Auf dem Bild: Die Rheinuferpromende in Düsseldorf. Foto: Lori / Legion Media

Die Anzahl der russischen Touristen in Europa wächst. Auf dem Bild: Die Rheinuferpromende in Düsseldorf. Foto: Lori / Legion Media

Auf den Straßen europäischer Städte hört man immer häufiger Russisch, russischsprachige Geschäftsschilder sind fast schon ein alltäglicher Anblick, russische Unternehmen im Ausland werden zunehmend einflussreicher. Experten sprechen von einer unübersehbaren „Russifizierung“ der Alten Welt.

Die „Russifizierung" Europas schreitet voran, und zwar in einem Tempo, das in manchen Orten bereits Widerstand hervorruft. Die Medien führen gerne die tschechischen Städte Karlsbad und Marienbad als Beispiele an. Diese berühmten Kurorte erfreuen sich bei Russen besonderer Beliebtheit. Hier verbringen nicht nur viele russische Touristen ihren Urlaub. Nicht wenige haben sich dauerhaft niedergelassen und besitzen eine langfristige Aufenthaltserlaubnis in Tschechien. Auffallend ist die Präsenz russischer Straßenwerbung. „Kyrillische Schrift sieht man überall: an Litfaßsäulen, in den Schaufenstern, an den unzähligen Schildern, die sehr ‚untschechisch' mit Metallketten an Laternenmästen und Verkehrsschildern angebracht sind", schreibt die Deutsche Welle.

Die Stadtverwaltung von Marienbad empfand angesichts der russischsprachigen Werbeschwemme Handlungsbedarf. Sie beschloss, das Aushängen von Schildern Regeln zu unterstellen, die eine Dominanz lateinischer Schrift sicherstellen sollen. Dieses auf den ersten Blick lokale Ereignis rief eine tschechienweite, öffentliche Resonanz hervor. Etwa zwei Jahrzehnte nach ihrer Trennung von den Russen sehen die Tschechen und Bewohner anderer mittel- und osteuropäischer Länder ganz unerwartet die russische Kultur wieder in ihr Leben zurückkehren.

 

Russische Kaufkraft als Motor

Die Ausbreitung russischen Lebens ist nicht nur in Ländern zu beobachten, die einmal zum sogenannten Ostblock zählten. „Russifiziert" werden auch Paris, Berlin und andere deutsche Städte. Eine junge, russische Managerin darf heute in den Marken-Boutiquen von Mailand und anderen Zentren der Designermode nicht fehlen. Die Behörden der italienischen Markenregion richteten einen medizinischen Bereitschaftsdienst in russischer Sprache ein, weil das Geschäft mit den zahlungskräftigen russischen Touristen eine mittlerweile unverzichtbare Einnahmequelle darstellt. Russische Touristen sind nach ihren Worten ein wahrer Schatz für den italienischen Fremdenverkehr.

Auch in Spanien sind Reisende aus Russland auf dem Vormarsch und beleben das Tourismusgeschäft. Nach Behördenangaben empfing das Land 2012 über eine Million russischer Gäste. Spanische Fremdenverkehrsagenturen berichten, dass russische Touristen ungefähr doppelt so viel Geld im Land lassen wie Reisende anderer Herkunft. Etwa zwei Drittel der russischen Feriengäste mieten Appartements, ein Drittel leistet sich Villen oder Häuser.

Das Bestreben der lokalen Wirtschaft, mit dieser Zielgruppe in einer gemeinsamen Sprache zu sprechen, ist verständlich. Wenn man dem Geld Nationalitäten zuschreiben kann, dann vollzieht sich in Europa offensichtlich eine sehr deutliche Infiltration „russischen Geldes".

„Russisch breitet sich vor allem über den Handel aus. Wir reden jetzt über Europa. Man könnte auch die Türkei oder Ägypten erwähnen, wo jeder kleine Junge auf dem Markt ein paar Sätze Russisch spricht", erklärt Dmitri Alexandrow, Leiter der Abteilung für analytische Forschungen der Investment-Gruppe Univer Capital. „Der neue Trend, Russisch zu lernen, ist ausschließlich auf die zahlungskräftige Nachfrage von russischen Touristen oder russischen Einwanderern zurückzuführen. Sollte diese Nachfrage irgendwann wieder zurückgehen, wird mit ihr auch die russischsprachige Werbung sofort wieder verschwinden. Ich sehe hier einen rein ökonomischen Zusammenhang. Die Wirtschaft reagiert auf die wichtigste Käufergruppe und lässt sich von dem Prinzip ‚Der Kunde ist König' leiten", so der Analytiker.

Dieser Standpunkt hat die Statistiken auf seiner Seite. Experten stellten im Jahr 2012 einen steilen Zuwachs von Gästezahlen aus Russland fest. Wie das Marktforschungsunternehmen Euromonitor International berichtet, verkauften europäische Geschäfte und Luxusboutiquen im vergangenen Jahr russischen Touristen Waren im Wert von 18 Milliarden Euro. In vielen Ländern nehmen Russen außerdem beim Erwerb von Immobilien führende Positionen ein. Das alles nährt die These einer aufkommenden „russischen Epoche" in Europa.

 

Annäherung der Kulturen

Die Mentalitäten haben sich im Laufe der Jahre einander angenähert. Begegnete man früher Russen in Europa mit einer kaum verhohlenen Geringschätzung, so ist heute ein grundsätzlicher Respekt gewachsen. Häufig gehen noch die extravagantesten Käufe als strategisch ausgewogene Investitionen durch.

Der ganze Komplex hat noch eine weitere interessante Facette. Russen treten heute in Europa immer häufiger in der Rolle des Verkäufers auf. Sie eröffnen Geschäfte, Restaurants, Schönheitssalons. Auf einer Straße, beispielsweise in Berlin, reihen sich manchmal mehrere Geschäfte russischer Einwanderer aneinander. Ihre Ladenschilder sind in deutscher Sprache beschriftet. Auch dieses Phänomen scheint die Theorie der „neuen russischen Epoche" zu stützen.

Natürlich entwickeln sich russische Geschäfte in Europa nicht reibungslos. Neben objektiven Faktoren, etwa der Konkurrenz, schlagen auch Überreste des Kalten Krieges im kollektiven Unterbewusstsein der Europäer negativ zu Buche. Die Abneigung gegen russisches Kapital in Europa ist keinesfalls wirtschaftlich begründet. Hier sind politische Motive im Spiel. Nicht wenige Menschen sind immer noch davon überzeugt, dass ein Unternehmen russischer Herkunft zu seriösen Geschäften nicht imstande ist.

Ein solches Vorurteil lässt sich leicht erklären. Es genügt ein Blick auf die jüngere Vergangenheit der europäisch-russischen Beziehungen. Neue Zeiten jedoch erfordern ein neues Denken. Die „Russifizierung" Europas vermag dessen Grundwerte nicht zu erschüttern. Dieser Prozess schafft im Gegenteil auf natürlichem Wege sehr günstige Bedingungen für die angestammten Bewohner, die Wirtschaft und nicht zuletzt für gutnachbarschaftliche Beziehungen zwischen den zwei Teilen des großen europäischen Kontinents.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst bei Stimme Russlands.

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