Bekannte russische Schriftsteller haben in Berlin die Zukunft Russlands besprochen. Foto: Alexandra Gurkowa
Die Sonne am Brandenburger Tor geht runter, die Diskussion zu Russlands Schicksal fängt gerade erst an. In der Akademie der Künste – in direkter Nähe zu den Hauptsehenswürdigkeiten Berlins – treffen sich vier bekannte russische Autoren – der Lyriker und Essayist Lev Rubinstein, die Grande Dame der russischen Gegenwartsliteratur Ludmila Ulizkaja, der revolutionäre, meist verkaufte Autor seiner Generation Sachar Prilepin und
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die reflektierende junge Schriftstellerin Natalia Kljutscharjowa. „Solche Veranstaltungen ermöglichen es, nicht nur viel mehr über Russland, sondern auch über sich selbst zu erfahren. Es war die russische Literatur, die mich selbst zu Wort gebracht hat", meint der Direktor der Akademie der Künste, Ingo Schulze, und schließt sich den mehr als 200 Gästen im Saal an.
„Meine Generation hat sich im ständigen Kampf gegen das System herausgebildet", erinnert sich der ehemalige sowjetische Dissident Lev Rubinstein. "Seitdem hat sich nichts verändert. Die Kunst ist nach wie vor die Strategie der persönlichen Rettung". Die Zuschauer klatschen dem 66-jährigen Schriftsteller anerkennend Beifall. Die Aussagen der liberalen Literaten entsprechen den Erwartungen des Publikums, das sein Russlandbild über das Fernsehen und die Zeitungen vermittelt bekommt.
„Aber was wir in den Medien erfahren, beschreibt nicht das ganze Russland. Ökonomische Erregungen und politisch geförderte Klischees vernebeln insbesondere in Deutschland den Blick auf das vielfältige Land", meint der Mitorganisator der Veranstaltung, der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, Thomas Krueger. Für ihn ist Literatur „ein Wasserstandsanzeiger der Gesellschaft".
Und genau um die heutige Gesellschaft geht es bei der Eröffnungsdiskussion in erster Linie: „Ich spüre Hoffnung und Veränderung des Menschengeistes, ich sehe immer mehr sinnvolle Gesichter", meint die in der Stadt Perm geborene Natalja Kljutscharjowa. Inzwischen wohnt Natalja in einem kleinen Dorf. Anhand von Graffitis an den Zäunen merkt sie, wie sich die Gesellschaft verbessert und schreibt Romane. Zwei von ihnen – „Endstation Russland" und „Dummenkopf" – wurden bereits ins Deutsche übersetzt.
Ludmila Ulizkaja, die sich bereits in den 1980 Jahren als Schriftstellerin etabliert hat, sieht nicht so optimistisch in die Zukunft: „In Kummer nach imperialistischen Perioden der Geschichte wird in Russland heute ein neuer sowjetischer Mensch gebildet. Aber schlimm ist die Situation nicht nur in Russland. Es ist überhaupt nicht klar, ob unser Planet und die mutierende neue Generation das 21. Jahrhundert überlebt".
Zu der mutierenden neuen Generation gehört laut eigener Aussage auch der provokative Realist Sachar Prilepin, der dem deutschen Publikum am 20. April sein bis jetzt bekanntestes Buch „Sankya" präsentierte. Darin erzählt er: „Die Teilnahme an beiden Tschetschenienkriegen und die Arbeit in der Spezialeinheit OMON und als Türsteher haben mich genauso beeinflusst, wie meine Eltern – Krankenschwester und Lehrer, die Liebe zu meiner Frau und die Geburt meiner vier Kinder". Klingt romantisch, aber nicht besonders aggressiv. Das Publikum hat provokantere Statements vom Nationalbolschewiken erwartet. „Er ist ein normaler Mensch, kein Radikaler oder Revolutionär", sagt die Slawistin Sabine etwas enttäuscht, geht aber trotzdem zum Signieren ihres Exemplars der „Sankya".
Der Mitbegründer des russischen Postmodernismus Andrej Bitow, der seit Ende der Fünfzigerjahre Prosa und Essays veröffentlicht, erzählt über sein letztes Werk und die Auseinandersetzung mit Russland „als Versuch Gottes die Zeit durch den Raum zu ersetzen". Er schließt die Augen, wenn aus seinem 2012 in Deutschland erschienenen Buch vorgelesen wird. Die Zuschauer machen es ihm nach, schaukeln taktmäßig und bemerken nicht einmal, dass ihnen die Garderobenmarken aus den Taschen fallen. Im Sonnenuntergang hört man von draußen (unerwartet und treffend) sakrale Musik, die am Brandenburger Tor gespielt wird.
Im Laufe von drei Tagen wechseln sich die Autoren, Literaturarten und Sichtweisen auf der Bühne ab. Nur eines bleibt gleich – die riesige weiß-rote Aufschrift „Wohin stürmst Du, Russland?" hinter dem Podium. Am letzten Abend des Literaturdialogs erklärt der offensive Sachar Prilepin ganz defensiv, warum die Frage von keinem der Schriftsteller im Rahmen der Berliner Veranstaltung eindeutig beantwortet wurde: „Nikolaj Gogol hat diese Frage im ersten Band von „Toten Seelen" gestellt. Als er es versucht hat zu beantworten, und das zweite Band dieses Werkes schrieb, wurde er verrückt. Ich traue mir die Prognose deswegen nicht zu. Wahrscheinlich genau so geht's auch den anderen".
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