Die Boston-Anschläge stellen die Denkschablonen in Frage, mittels derer die Menschen die Wirklichkeit begreifen. Foto: Reuters
Wenige Tage nach der Tragödie beim Boston-Marathon am 15. April deckten die Ermittler auf, dass ethnische Tschetschenen aus einer russischen Region des Nordkaukasus das Bombenattentat verübt hatten. Der Anschlag auf den Marathonlauf hat auch Russland empfindlich getroffen. Jetzt gilt es, Lehren aus Boston ziehen.
Lektion 1: Zivilbevölkerung spielt wichtige Rolle bei der Aufklärung
Im Allgemeinen versteht man unter einem Terroranschlag, dass es sich bei den Initiatoren um eine Gruppe von Personen handelt, die den Anschlag zugleich auch plant und ausführt. Oder es handelt sich um ein Terrornetz, wie im Falle des Anschlags vom 11. September 2001. Ein Terrornetzwerk lässt sich aufdecken, bekämpfen und schließlich auflösen.
Das Bombenattentat vom 15. April hingegen ähnelt eher den zahlreichen Amokläufen an amerikanischen Schulen. Konkrete Schlussfolgerungen sind
natürlich erst nach Abschluss der Ermittlungen möglich. Aber bislang sieht alles nach einem Exzess im Alleingang aus, in diesem Falle jedoch nicht eines einzelnen, sondern zweier Täter. Blinde Gewalt einzelner Personen kann sich sekündlich, in jedem beliebigen Moment ereignen. Niemand ist vor ihr sicher, es gibt kein System, das „Kurzschlüsse" in der Psyche eines Individuums vorhersehen könnte.
Es wäre vergebens, Metallsuchgeräte weiter zu optimieren und Polizei-Kontingente noch mehr aufzustocken. Viel wichtiger ist hier ein anderer Faktor: die stete Wachsamkeit der Bevölkerung und darüber hinaus die Bereitschaft der Bürger und Einrichtungen, in Katastrophensituationen schnell und zielgerichtet zu reagieren, die Opfer zu versorgen und die Täter zu fassen.
Lektion 2: Denkschablonen sind kontraproduktiv
Die Boston-Anschläge stellen die Denkschablonen in Frage, mittels derer wir, die Amerikaner und mehr oder weniger alle anderen Menschen die Wirklichkeit begreifen.
Tschetschenen werden im Westen fast automatisch der Kategorie „arme, unglückliche Menschen" zugeordnet. Sie sind per se Opfer, bedürfen Exil und rechtlicher Unterstützung. Vor Boston waren die USA noch nicht mit Phänomenen konfrontiert, die in Europa keine Seltenheit sind: von Personen kaukasischer Herkunft initiierte Schießereien auf offener Straße und Messerstechereien in Diskotheken. Jetzt wurden sie mit dieser Form von Gewalt konfrontiert. Und das bringt ihr gewohntes Denkmuster durcheinander: Nicht alle, die uns aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit als schutzbedürftige Opfer erscheinen, verdienen auch unsere Unterstützung.
Wie subjektiv schlüssig das Motiv der Täter auch ausfallen mag, wenn ein Gericht sie als Mörder verurteilt, dann werden sie für ihren Mord bestraft. Nicht, weil sie Tschetschenen oder Moslems sind, sondern weil sie in einer Gesellschaft einen Mord begangen haben, die diese Handlung als Unrecht definiert und in der Lage ist, die Einhaltung des geltenden Rechts sicherzustellen.
Russland sollte ebenfalls lernen, seinen Gesetzen Geltungskraft zu verleihen und sie in jedem einzelnen Fall genau anzuwenden, ohne sich in falschen Klischees zu verlieren.
Lektion 3: Probleme offen ansprechen
Sobald im Zusammenhang mit den Anschlägen in Boston die Wortverbindung „Nördlicher Kaukasus" fiel, machten sich Heerscharen von Journalisten auf die Reise dorthin. Was aber sehen sie in Dagestan? Sie werden zuerst mit der Tatsache konfrontiert, große Beharrlichkeit und Professionalität an den Tag legen zu müssen, um zum wirklichen Leben vorzudringen. Denn dieses wissen die Menschen im Kaukasus sehr gut zu verstecken. Zweitens sehen sie eine dicht besiedelte und lebendige Region, die entgegen allen in Russland kursierenden Vorstellungen eine zügige und daher für viele schmerzvolle Modernisierung durchlebt.
Vor diesem eigentlich vielversprechenden Hintergrund werden die Journalisten zwei sich zuspitzende und potenziell zur Eskalation führende Konflikte erkennen. Der erste Konfliktherd hängt damit zusammen, dass es fast nirgends im Kaukasus geregelte Eigentumsrechte an Grund und Boden gibt. Boden aber wird zusehends zum Gegenstand realer wirtschaftlicher Interessen. Gleichzeitig vollziehen sich innerhalb der islamischen Gemeinschaft Veränderungen. Sie fühlt sich nicht mehr so eindeutig gespalten durch dogmatische und politische Gegensätze. Die zunehmende islamische Solidarisierung der Jugend nicht wahrzunehmen, grenzt an Blindheit. Potenzielle Zarnajews gibt es leider viele. Zudem entwickelt sich der Islam zielstrebig zu jener Basis für soziale Normen und zur „Instruktion" für den Aufbau gesellschaftlicher Institutionen, die das russische Recht langsam aber sicher ersetzen wird. Diese Prozesse schreiten alle sehr schnell von Region zu Region voran.
Die neuen Informationen über den Kaukasus durch die vielen Journalisten können von Vorteil sein, wenn sie bei der Suche nach klugen Strategien zur Lösung offensichtlicher Probleme helfen.
Lektion 4: Engere Zusammenarbeit erforderlich
Die Beziehungen zwischen den USA und Russland sind derzeit durch mehrere Konflikte äußerst belastet. Dennoch trafen sich am 24. April amerikanische Diplomaten und ein Vertreter des FBI in Machatschkala, der Hauptstadt Dagestans, mit den Eltern der Brüder Zarnajew. Wer weiß, wie schwierig es für Ausländer ist, in die Republiken des Nordkaukasus einzureisen, weiß auch, dass diese Begegnung überhaupt nur dank einer besonnenen, adäquaten und pragmatischen Zusammenarbeit beider Seiten zustande kam. Würde diese Kooperation gefestigt, könnten Russen und Amerikaner leichter gegen gemeinsame Gegner vorgehen.
Die ungekürzte Fassung dieses Beitrags erschien zuerst bei Moskowskije Nowosti.
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