Freiwillige beschäftigen sich mit der Suche nach Grabstellen und der Feststellung der Identität der Gefallenen, die in den Jahren des Großen Vaterländischen Kriegs ums Leben gekommen sind. Foto: Michail Mordasow / Focus Pictures
„Solange der letzte gefallene Soldat nicht der Erde übergeben wurde, ist der Krieg noch nicht zu Ende“, sagte einst der berühmte russische Heerführer Alexander Suworow (1730-1800).
Freiwillige begeben sich bereits seit Jahrzehnten auf die Suche nach Grabstellen und versuchen, die Identität der Gefallenen aus den Jahren des Großen Vaterländischen Kriegs (1941-1945) festzustellen. Sie sind in den Gebieten einst blutigster Schlachten tätig und entringen die Namen der Helden dem Vergessen.
Im Leningrader Gebiet zum Beispiel werden die Sucharbeiten von der Gruppe Ingrija geführt. Die Gruppe hat bislang in 37 Expeditionen die sterblichen Überreste von 2 227 Soldaten und Kommandeuren der Roten Armee aufgespürt.
Jewgenij Iljin. Foto: Webseite der Staatlichen Universität Sankt Petersburg |
Was die Mitglieder der Suchmannschaft bewegt, erzählt gegenüber Russland HEUTE der Leiter der Gruppe, Jewgenij Iljin: „Mit der organisierten Suche beschäftige ich mich seit 13 Jahren. Ich habe das Gefühl, dass dieser Krieg, den ich selbst nicht miterlebt habe, immer tief in meinem Inneren gesessen hat.“ Nachdem Jewgenij Iljin seinen Wehrdienst in der Sowjetarmee abgeleistet hatte, immatrikulierte er sich an der Fakultät für Geschichte der Leningrader Universität. Er sagt, er habe immer schon nach gefallenen Soldaten suchen wollen.
Im Jahr 2000, als er bereits selbst unterrichtete, stellte Iljin eine kleine Erkundungsgruppe aus Studenten der historischen und chemischen Fakultät der Sankt Petersburger Universität zusammen. „Am Anfang war das größte Problem, die ganzen Genehmigungen zur Durchführung der Sucharbeiten zusammenzubekommen. Überall wurden wir schief angesehen und sogar gefragt, wie viel wir dafür bezahlt bekämen. Es musste ein großes Misstrauen überwunden werden. Aber mit der Zeit änderte sich das Verhältnis zu uns. Unsere Studentengruppe führt nun schon seit 13 Jahren etwa drei Felderkundungen im Jahr durch. Wir suchen verschollene Soldaten. Geld für unsere Arbeit bekommen wir nicht.“
Im Bezirk Kirowskij, in der die Gruppe Ingrija zurzeit arbeitet, wurde während des Kriegs das Schicksal Leningrads entschieden. Zwischen 1941 und 1943 versuchte die Rote Armee fünfmal, die Blockade, die die Deutschen um die Stadt herum errichtet hatten, zu durchbrechen. Und gerade im Bezirk Kirowskij tobten die erbittertsten Kämpfe. Nach vorsichtigen Schätzungen kamen hier zwischen 120 000 und 130 000 Menschen ums Leben. Heute gelten gerade einmal 37 000 Personen als bestattet, wobei die Massengräber schon mitgerechnet sind.
„Bei der letzten Expedition im Herbst 2012 fanden wir im Sumpf einen explodierten Panzer vom Typ KW“, erzählt Iljin. „Ich sagte den Studenten, dass hinter dem Panzer wahrscheinlich Infanteristen hinterher gelaufen waren. Und tatsächlich fanden wir im Umkreis des Panzers 25 gefallene Soldaten. Drei von ihnen hatten Erkennungsmarken, aber durch das lange Liegen im Sumpf haben zwei Erkennungsmarken ‚das Zeitliche gesegnet‘, wie wir es nennen. Sie waren vollkommen unleserlich. Aber eine konnten wir entziffern und sogar die Verwandten des gefallenen Soldaten ausfindig machen.
Im Februar 2013 kündigte der Verteidigungsminister Russlands, Sergej Schojgu, bei einem Treffen mit Veteranen der Schlacht von Stalingrad an, dass das Verteidigungsministerium bereit sei, die Bildung militärhistorischer Gruppen für Suchunternehmungen im ganzen Land zu unterstützen und diese mit der notwendigen Ausrüstung auszustatten.
Seine Frau war zu diesem Zeitpunkt leider schon verstorben, aber in Kürze wird seine Enkelin aus der fernen Region Krasnojarsk anreisen, um ihrem Großvater die letzte Ehre zu erweisen.“ Iljin ist sichtlich gerührt: “Wenn es gelingt, eine Erkennungsmarke aufzuspüren und den Namen des Soldaten zu entziffern, verspüren die Mitglieder der Suchmannschaft eine unbeschreibliche Freude. Das bedeutet, dass es gelungen ist, einen weiteren gefallenen Soldaten aus der Anonymität zu holen. Und wenn es zudem auch noch gelingt, dessen Verwandte aufzuspüren, ist die moralische Befriedigung nahezu grenzenlos. Genau das ist der Grund, weshalb wir uns in den Wäldern und auf den Feldern auf die Suche begeben, in Zelten wohnen und tagtäglich schwere und aufwendige Arbeit leisten.“
Die Suchgruppe Ingrija verfügt über enge Kontakte zu deutschen Partnern. „Seit der Bildung unserer Gruppe haben wir bereits mehrere Exkursionen für deutsche Schüler durchgeführt“, erzählt Iljin. „2011 besuchten uns Kollegen aus Deutschland. Wir machten uns gemeinsam mit ihnen auf die Suche im Verfluchten Hain beim Dorf Kruglaja. Wenn die Gruppe Ingrija gefallene Wehrmachtssoldaten aufspürt, werden deren sterbliche Überreste dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge übergeben. Sie werden dann auf dem Friedhof des Dorfes Sologúbowka im Leningrader Gebiet bestattet. Das ist der größte deutsche Soldatenfriedhof außerhalb der Bundesrepublik Deutschland. Gegenwärtig sind dort ungefähr 82 000 deutsche Militärangehörige begraben.“
Offiziellen Angaben des Verteidigungsministeriums zufolge sind Jahrzehnte nach dem Ende des Großen Vaterländischen Kriegs auf den ehemaligen Schlachtfeldern vom „Tal des Todes“ in der Nähe von Murmansk bis hin nach Berlin 1 054 000 gefallene Soldaten begraben. Bislang wurden von Suchgruppen 450 000 Personen gefunden und deren Überreste mit militärischen Ehren bestattet. Auf die Frage, ob denn alle Gefallenen aufgefunden werden können, antwortet Iljin: „Wir werden wohl niemals den letzten Soldaten aufspüren, aber unsere Pflicht ist es, alles dafür zu unternehmen.“
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