Gulia kehrte zurück als Vegetarierin

Während ihres Studiums am ECLA College in Berlin hatte Gulia Nasyrova aus Pskow genügend Zeit, Land und Menschen kennenzulernen. Ganz besonders hat sie die Offenheit der Menschen und ihre Liebe zum Leben beeindruckt.

Gulia Nasyrova. Foto aus dem

persönlichen Archiv

Gulia Nasyrova (28) aus Pskow, einer Stadt am Pleskauer See nahe der Grenze zu Estland, studierte fünf Jahre lang Betriebswirtschaftslehre und Linguistik an der Sankt Petersburger Universität für Wirtschaft und Finanzen. Nach Berlin kam sie 2011 mit einem Stipendium des amerikanischen Colleges ECLA.

„Deutsch war kein großes Problem für mich, da ich damit ja schon in der Schule Berührung hatte und auch an der Universität Deutsch meine zweite Fremdsprache gewesen war", erzählt mir Gulia am Telefon aus Sankt Petersburg. „Am College in Berlin erhielt ich dann ein Übersetzerdiplom für Englisch und Deutsch. Ich hatte also keine Angst, mich nicht verständigen zu können. Allerdings hörte in dem Moment, in dem ich in Berlin Deutsch zu sprechen anfing, jeder, dass ich Ausländerin war, und wollte mir entgegenkommen, indem man Englisch mit mir sprach. Das war aber genau falsch, da ich ja meine Deutschkenntnisse anwenden wollte", lacht sie.

Waren denn die ersten Erfahrungen dort so, wie Du es Dir vorgestellt hast, und was war anders als erwartet?

Gulia Nasyrova: Ich habe sehr positive Erinnerungen an Berlin. Vom ersten Tag an war ich viel in der Stadt unterwegs, um Menschen zu begegnen. Daran erinnere ich mich gerne. Ich bin regelmäßig wieder dort, zuletzt im Mai. Ich würde gern dort wohnen.

Hast du Dich willkommen oder fremd gefühlt?

Kennen Sie Couchsurfing? Über die Webseite habe ich Menschen kennengelernt, bei denen ich auch übernachten konnte, und es ist immer gut gegangen. Ich habe mich nie fremd gefühlt, wenn ich in Berlin war.

Hattest Du ein Bild von Deutschland, bevor Du kamst, und hat es sich geändert?

Ich versuche, mich nicht von Stereotypen leiten zu lassen, wenn ich ein Land besuche. Die Leute am College in Berlin waren sehr international, also hatte ich es ohnehin mit sehr diversifizierten Hintergründen zu tun. Und dann kommt noch dazu, dass sie ohnehin nicht stimmen. Bevor ich nach Berlin kam, hatte ich andere Städte schon besucht: Hamburg, München, Köln. Diese Eindrücke trafen aber alle nicht auf Berlin zu. Also ist es sinnlos, sich innerlich auf ein Bild festzulegen.

Was waren die wertvollsten Erfahrungen für Dich?

Mich haben die Menschen und ihre Haltungen dem Leben gegenüber beeindruckt, denn einer entspannten Grundhaltung steht oft ein großes Interesse an Dingen gegenüber, die über das eigene Ich-Umfeld hinausgehen. Ich habe eine junge Frau kennengelernt, der Umweltbewusstsein sehr wichtig war und die sich vegan ernährte. Ich kannte das nicht. In Russland gibt es kaum Menschen, die das Fleischessen ablehnen. Und inzwischen bin ich selbst Vegetarierin. Ein anderes Beispiel: Ich stieß auf das Konzept der Umsonstläden – und das ist nun etwas, was mir völlig neu war: dass Menschen dort Dinge abgeben, die man sich ohne Bezahlung mitnehmen kann.

Wie ist es mit persönlichen Kontakten?

Facebook hilft da durchaus, ich habe seit meinem Aufenthalt in Berlin Freunde in Italien und Deutschland, mit denen ich noch in Kontakt bleibe und die ich auch besucht habe.

Gulya Nasyrova: Der entscheidende Unterschied zwischen dem Studieren im Heimatland und dem Auslandssemester ist ja, dass man die Chance hat, das „Andere" kennenzulernen. Foto aus dem persönlichen Archiv

Gibt es Dinge, die Du gerne vor dem Austausch gewusst hättest oder die Du gerne verbessern würdest?

Das College hat einen Campus in Pankow und man kann durchaus seine Zeit ausschließlich dort verbringen. Ich wäre gerne näher an der Stadt gewesen. Das ist natürlich nicht so einfach, aber da die Studenten, gerade auch die, die nicht so sicher mit der deutschen Sprache waren, im Campus

bleiben konnten, sind nur wenige wirklich intensiver mit den Deutschen in Kontakt getreten oder haben Freundschaften geschlossen. Ich würde mir wünschen, dass sich das ändert."

Was würdest Du Studenten empfehlen, die sich überlegen, semesterweise ins andere Land zu gehen?

Habt keine Angst – das wäre mein Rat. Der entscheidende Unterschied zwischen dem Studieren im Heimatland und dem Auslandssemester ist ja, dass man die Chance hat, das „Andere" kennenzulernen, und das kann man nur, wenn man seine Hemmung überwindet und mit Menschen spricht. Es wird außerdem immer einfacher, je häufiger man es versucht. Als ich zurückkam, haben mich meine Freunde über Deutschland und Berlin ausgefragt, und wegen meiner Berichte haben sie mich dann später auch nach Berlin begleitet – weil sie neugierig geworden waren. So wird man zu einer Art Botschafter für ein Land."

Gulia hat in Sankt Petersburg Arbeit als Englischlehrerin gefunden. Sie ist außerdem als Journalistin tätig und verfasst Artikel über Sprachstudien und transkulturelles Lernen. Gerne würde sie in Zukunft beruflich mehr der Kenntnisse, die sie im Studium in den Fächern künstlerischer und philosophischer Ausrichtung gewonnen hatte, einsetzen, sagt aber, dass das gegenwärtig in Sankt Petersburg nicht so einfach zu realisieren sei.

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