Russische Muslime im Dschihad

Foto: AP

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Wie werden russische Muslime zu Kämpfern des Dschihads im Nahen Osten? Wir sind der Frage nachgegangen und haben uns mit Marjam und Ljudmila, der Ehefrau und der Mutter des toten Dschihad-Kämpfers Jegor Rjabinin, besser bekannt als ar-Rusi, getroffen.

Die Sankt Petersburger Polizei fahndet in Kooperation mit den Geheimdiensten nach Personen, die Russen für den Kampf in Syrien rekrutieren. Auch Jegor Rjabinin, ein russischer Muslim, der unter seinem Decknamen ar-Rusi bekannt wurde, beteiligte sich am Dschihad. Die Sankt Petersburger Internetzeitung Fontanka ist der Frage nachgegangen, was den Vater zweier Kinder dazu bewegt hat, seine Familie zurückzulassen und sein Leben im Nahen Osten dem Dschihad zu opfern.

Ein Korrespondent der Fontanka trifft sich mit Jegor Rjabinins Frau Marjam. Obwohl die Temperaturen auf 28 Grad Celsius geklettert sind, erscheint die Frau im Hidschab mit einem langen Kleid darunter. Gerade mal die Fingerspitzen lugen aus den Ärmeln hervor. 

Die Mutter zweier Kinder erzählt, wie ihr Ehemann nach Syrien gelangt ist. Sie sagt, er sei einst aus der kasachischen Stadt Karaganda nach Moskau gereist. Doch fern von seinen Angehörigen habe er sich einsam gefühlt. Zudem habe er Schwierigkeiten mit seinem Vater gehabt. Anfang der 2000er-Jahre soll der künftige ar-Rusi mit einem religiösen Leben angefangen haben: Er besuchte Kirchen und studierte den Islam. Zusammen mit einem Landsmann aus Kasachstan habe Jegor Rjabinin die neue Religion angenommen und sei nach Sankt Petersburg gezogen. Die Wege der jungen Männer trennten sich, als Rjabinin beschloss zu heiraten.

„Jegor ist ein offener und direkter Mensch. Wir haben uns über ein soziales Netzwerk kennengelernt. Er hat mich direkt gefragt, ob ich vorhabe zu heiraten. Wir haben uns ausgetauscht und er hat sich als sehr zuverlässig und aufmerksam erwiesen“, erzählt Marjam über ihren Mann.

Im Herbst 2009 seien einige Freunde von ihm dann bei einem Sondereinsatz an der tadschikischen Grenze ums Leben gekommen – darunter auch Roman mit dem Spitznamen Chan, mit dem er gemeinsam zum Islam konvertiert war. „Ein gewisser Rinat, ein ehemaliger Kämpfer einer Spezialeinheit, der an Operationen im Kaukasus beteiligt war, hatte sie alle aufgefordert, dorthin zu kommen. Jegor hatte damals abgelehnt und versucht, die anderen davon abzuhalten. Doch man hatte ihnen eine Militärromantik vorgegaukelt und sie haben nicht auf ihn gehört“, erinnert sich Marjam an die Ereignisse, die vier Jahre zurückliegen.

Im Februar 2010 stellte ein Ermittlungsausschuss bei Rjabinin Anzeichen von Extremismus fest und im April 2011 wurde er zu Besserungsarbeit verurteilt, weil er in den sozialen Netzen den Mord an dem Moskauer Geistlichen Daniil Sysojew in ungehöriger Weise als gerechtfertigt eingeschätzt habe.

Ar-Rusi hatte damals jedoch ganz andere Sorgen: Sein Sohn sei bei der Geburt beinahe gestorben, erzählt Marjam. Die Ärzte hatten bei dem Neugeborenen die folgenschwere Diagnose des Verdachts auf zerebrale Kinderlähmung gestellt. Daraufhin habe Jegor geschworen, dass er, sollte der Junge gesund werden, dorthin gehen werde, wo seine Hilfe benötigt wird, und sein Leben fortan in den Dienst des Kampfes für den Islam stellen werde. Sechs Monate später erklärten die Ärzte, Daniel sei auf wundersame Weise geheilt.

Marjam erzählt weiter, dass ihr Mann nach der Genesung seines Sohnes zunächst vorgehabt habe, in den Nahen Osten zu gehen, aber ihre zweite Schwangerschaft und die Überredungskünste seiner Angehörigen veranlassten ihn zu einem Aufschub seiner Abreise. Nach der Geburt seiner Tochter sei der Alltag noch schwieriger geworden. Die Ersparnisse seien zur Neige gegangen und Arbeitgeber seien nicht gewillt gewesen, in ihr Unternehmen einen vorbestraften Islamisten aufzunehmen; manche habe das rituelle Gebet Namaz stutzig gemacht und wieder andere haben ihn aufgefordert, seinen Bart abzurasieren.

Hinzu kam, dass sein Sohn oft krank gewesen sei. Für ar-Rusi sei dies ein Zeichen dafür gewesen, dass Allah ihn für das nicht eingelöste Gelöbnis bestrafe. Zur gleichen Zeit sei einer seiner Glaubensbrüder aus dem Nordkaukasus aufgetaucht. Er habe Jegor über das Internet seine Hilfe bei der Abreise nach Syrien angeboten.

Am 4. Februar 2013 flog er in die Türkei, einen Tag später folgte ihm ein weiterer Slawe aus Sankt Petersburg, der Muslim Wadim. Jegor nahm von der Türkei und von Syrien aus Kontakt mit seiner Familie auf. Die beiden Sankt Petersburger landeten in einem Ausbildungslager. Anfang April wurden sie in den Kampf geschickt. Rjabinin hatte seine Angehörigen vorgewarnt, er könne in den kommenden zwei Wochen keinen Kontakt mit ihnen aufnehmen. Bis zum heutigen Tag habe er sich nicht mehr bei ihnen gemeldet.

Seine beunruhigte Frau versuchte, etwas über sein Schicksal in Erfahrung zu bringen. Ende April wurde ihr über das Internet mitgeteilt, dass Jegor und Wadim umgekommen seien: In der Nähe der Stadt Homs seien sie in einen Hinterhalt geraten. Außer ihnen seien durch einen Überfall von Unbekannten angeblich weitere drei Tschetschenen ums Leben gekommen. Sie alle wurden am Randstreifen einer namenlosen Straße beigesetzt.

Nun möchte Marjam ein offizielles Dokument über den Tod ihres Mannes ausgestellt bekommen. Sie muss ihre beiden Kinder allein großziehen. Von vielen ihrer Bekannten erhält sie den Rat, in die Türkei oder nach Ägypten umzuziehen, doch sie lässt sich Zeit.

Während des Gesprächs zittert ihre Stimme nur ein einziges Mal: als sie sich daran erinnert, wie ihr Mann mit den Kindern gespielt hat. „Daniel war auf Jegors Rücken geklettert, als dieser gerade am Beten war. Nun fragt mich mein Sohn, warum sein Papa so lange weg ist und will zu ihm fahren“, flüstert sie fast unhörbar.

Rjabininas Mutter erzählt im Gespräch mit Fontanka, ihr Sohn sei nach einem schweren Verkehrsunfall in Moskau religiös geworden. Die Familie habe erst 2007 erfahren, dass ihr Sohn Muslim geworden war.

„Am 8. Februar hat er mich angerufen und gesagt, er sei in der Türkei. Er hat gemeint, er werde dort bleiben und die Familie nachholen. Das habe ihm jemand geraten. Ich wäre niemals auf die Idee gekommen, dass er dort in den Kampf ziehen wollte“, erinnert sich Ljudmila Rjabinina. Sie ist überzeugt, dass ihr Sohn Opfer islamistischer Anwerberversuche geworden sei. Als Roman Chan damals in den Kampf gezogen war, habe Jegor noch versucht, ihn davon abzuhalten, und ihn aufgefordert, mit seinen Angehörigen darüber zu sprechen.

„Er ist so ein guter und kluger Mensch. Ich glaube, dass er lebt. Wir wollen, dass er zu uns zurückkehrt – ganz gleich, ob aus Gefangenschaft oder als Verletzter. Er soll erfahren, dass wir ihn brauchen“, sagt Ljudmila Michajlowna, die mittlerweile gelernt hat, die Tränen zurückzuhalten.

Russische Strafverfolgungsbehörden berichten, man habe von Rjabinins Plänen, Russland zu verlassen, Kenntnis gehabt. Kurz vor seiner Abreise hatte er sich Geld und Empfehlungsschreiben besorgt – angeblich für eine Ausbildung in einer religiösen Einrichtung. Mehrere Behörden hatten Informationen über die tatsächlichen Ziele des Mannes vorliegen, allerdings habe es keinerlei gesetzliche Gründe gegeben, dessen Ausreise zu verhindern.

„Die Agitatoren treffen solche Menschen in einer schwierigen Lebenslage an und verweisen darauf, dass es sich bei dem Einsatz um einen Dienst für Gott handelt; sie versprechen eine gute Bezahlung, und weder Romantiker noch Fanatiker haben eine Vorstellung davon, was sich zurzeit in Syrien ereignet. Uns liegen Informationen vor, dass Rjabinin von Kampfgefährten getötet wurde, die ihn für einen russischen Spion hielten“, berichten die Polizisten nüchtern.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst bei Fontanka.ru.

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