Das Theater der offenen Herzen bietet Menschen mit Down-Syndrom eine Bühne für ihr Engagement. Foto: PhotoXPress
Die bewegende Dynamik der Gebärdensprache
Die expressive Aufführung von Viktor Zojs Lied „Peremen" („Veränderungen"), der Kult-Hymne der russischen Jugend in den Achtzigern, gibt es nun auch in Gebärdensprache. Völlig schwarz gekleidet führt ein junger Mann, Alexej Snamenskij, vor einer dunklen Kulisse die Übersetzung des Liedes in der Gebärdensprache auf. Dabei ist die Gestik so fließend, dass sie dem dynamischen Lied in nichts nachsteht.
Erstmals trat Snamenskij in der Schlussszene von „Pyl" („Staub") auf, einem russischen Kultfilm von Regisseur Sergej Loban aus dem Jahre 2005. Später spielte er in „Chapiteau Show", Lobans nächsten Film, die Hauptrolle. Heutzutage ist Snamenskij ein Star und einer von nur wenigen Menschen mit einem Hörschaden, die einen solchen Bekanntheitsgrad erreicht haben. In Russland gibt es mehr als 13 Millionen gehörlose Menschen. Für viele von ihnen ist die Schauspielerei eine Möglichkeit, sich selbst auszudrücken und ein gleichwertiger Bestandteil der Gesellschaft zu sein. Darüber hinaus wirkt der Auftritt eines stummen Schauspielers viel dramatischer und ausdrucksvoller und lässt die Zuschauer selbst häufig sprachlos zurück. Die Gebärdensprache steht der Stimme im Hinblick auf die mitschwingende Emotion in nichts nach.
Die erste russische Theatertruppe gehörgeschädigter Schauspieler tauchte 1919 in Moskau auf. In den Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts organisierte die Gesamtrussische Gesellschaft der Gehörlosen Gastspiele Moskauer gehörloser Schauspieler in verschiedenen Städten der UdSSR. Sie waren ein riesiger Erfolg. An manchen Abenden kamen über tausend Besucher, darunter zwanzig bis dreißig Prozent Hörgeschädigte. Stücke von Maxim Gorki, Nikolaj Gogol und Friedrich Schiller wurden vollständig als Pantomime und in Gebärdensprache inszeniert!
Erst 1948 wurden die Aufführungen von einem Sprecher „synchronisiert". Dadurch wurde das Gehörlosen-Theater unter dem hörenden Publikum weiter popularisiert. Bis in die Sechzigerjahre gab es in erster Linie Gruppen aus Hobbyschauspielern. Zu dieser Zeit nahmen die ersten gehörlosen Schauspieler ein Studium an der Schtschukin-Theaterhochschule auf.
1962 wurde das Mimik- und Gestik-Theater im Moskauer Ismajlowo gegründet, damals als weltweit erstes Profitheater für gehörlose Menschen. Während der Sowjetzeit unternahm dieses Theater zahlreiche erfolgreiche Touren im In- und Ausland, mehr als einhundert Stücke wurden bis in die Neunzigerjahre hinein inszeniert. Anfang des Jahrtausends stand das Theater, das von der Gesamtrussischen Gesellschaft der Gehörlosen, finanziert wurde, vor dem finanziellen Ruin. Heutzutage ist das Theater auf sich selbst gestellt. Die meisten Inszenierungen stammen noch aus dem alten Repertoire, und man hofft auf Unterstützung und eine Verjüngung der Truppe.
Schauspieler trotzen der Raumnot und anderen Problemen
Die 1991 gegründete Staatliche Sonderhochschule für Künste in Moskau ist die einzige Bildungseinrichtung der Welt, an der Studenten mit einer Körperbehinderung ausgebildet werden. So studierten hier nahezu alle russischen gehörgeschädigten Berufsschauspieler, einschließlich Alexej
Snamenskij, der in erster Linie als Theaterschauspieler tätig ist. Sein erstes Projekt, „Nedoslow" (nicht zum Reden zumute), begann als ein Theaterstudio neben dem Studium und entwickelte sich später zu einem Arbeitsprojekt mit 16 Schauspielern und sieben Stücken, die in Russland, den USA und Kanada aufgeführt wurden.
In seinem jüngsten Projekt „Kinematograf" sind es zwar nur noch fünf Schauspieler und vier Stücke, jedoch können sich die einzelnen Personen so sehr viel besser entfalten. „Mit Kinematograf reisen wir häufig durch Russland", sagte Alexej gegenüber Russland HEUTE. „Dank dem Engagement unserer Produzentin Irina Kutscherenko erhalten wir nun Unterstützung von der Gesellschaftskammer und dem Kulturdezernat Russlands sowie durch private Förderer."
In Russland gibt es noch einige andere Theatertruppen mit gehörgeschädigten Schauspielern: Das „Indigo" in Tomsk, das „Geste" in Nowosibirsk, „Slow.net" in Rostow und die Jungschauspieler von „Piano", einem Theater für gehörlose Kinder in Nischnij Nowgorod. Durch die Zusammenarbeit mit einem Internat für gehörlose Kinder ist man dort in der glücklichen Situation, eigene Räume für Proben und Vorführungen nutzen zu können. Die anderen Ensembles sehen sich durch die Suche und Anmietung von geeigneten Räumen mit weiteren finanziellen Herausforderungen konfrontiert, so auch bei „Kinematograf". Aber von angemieteten Räumlichkeiten lassen sich die Schauspieler in ihrer Kreativität und Entwicklung nicht bremsen.
„Zusammen mit der Drehbuchautorin Polina Sinjewa planen wir einen Film über einen Gebärdensprache-Dolmetscher. Zurzeit sind wir auf der Suche nach einem Produzenten und nach Geldgebern. Wenn wir das geschafft haben, können wir in etwa einem Jahr mit den Dreharbeiten anfangen", gibt sich Snamenskij zuversichtlich. „Außerdem ist es für mich höchste Zeit, mich der Verteidigung meiner Abschlussarbeit zu stellen und so mein Studium als Filmregisseur zu beenden."
Im Theater der offenen Herzen ist der Name Programm
Ein Besuch im Theater der offenen Herzen unterscheidet sich ebenfalls deutlich von dem, was in einem konventionellen Theater stattfände. Der Gründer, Regisseur Igor Njeupokojew, bietet dort Menschen mit Down-Syndrom eine Bühne für ihr Engagement. Diese können sich zwar mit zusätzlicher Unterstützung meist in die Gesellschaft integrieren und haben auch den Wunsch dies zu tun, allerdings muss hierbei darauf Rücksicht genommen werden, dass ihre geistige Entwicklung verzögert stattfindet. In Russland werden immer noch 80 Prozent der Babys mit dieser Diagnose von ihren Müttern in Kinderheime gegeben.
Jene Eltern, die dies ablehnen und ihr Kind behalten wollen, müssen häufig all ihre Kraft und Geduld für die Erziehung aufwenden. Die markante Persönlichkeit und der starke Wille, ein alltägliches Leben führen zu wollen können aber nicht über die traurige Realität hinwegtäuschen, dass es in Russland bereits eine schwere Aufgabe ist, überhaupt eine Arbeit zu finden. Nikita Panitschew, 23, hat diese Herausforderung bereits gemeistert, er arbeitet als Koch in einem Moskauer Café. Aber nebenberuflich ist er auch
als Schauspieler im Theater der offenen Herzen tätig. Hier trifft er auf ein Umfeld, welches ihm nachfühlen kann und auch sehr engagierte Menschen, die als eine Art Mentor bereitstehen.
Njeupokojews Schauspieler sind Menschen ohne besondere Bühnenausbildung. Ihre Auftritte dauern nur selten länger als eine Stunde, denn sie ermüden sehr schnell. Außerdem muss der Regisseur bei jeder Vorstellung mit auf der Bühne stehen. Mit seinen Hinweisen und Anmerkungen leitet er die Schauspieler sanft auch durch kritische Momente. „Schauspieler mit Down-Syndrom haben ihre Ecken und Kanten, aber das ist ja gerade das Interessante!", erklärt Njeupokojew. „Die Zuschauer mögen glauben, dass sie der Probe eines Amateurtheaters beiwohnen, aber irgendwie befinden sie sich in einer magischen Welt, die von diesen unverfälschten Schauspielern geschaffen wird. Sie sind vollkommen freimütig und ungekünstelt."
Komplexe Themen wie Gott oder Liebe stehen im Vordergrund
Seit seiner Gründung im Jahre 1999 hat das Theater der offenen Herzen schon vielfach an verschiedenen Theaterfestivals teilgenommen, so zum Beispiel beim europäischen Theaterfestival Orpheus in Versailles. Darüber hinaus wurde es mit Russlands renommiertesten Theaterpreis Kristall-
Turandot in der Kategorie Künstlerische Hingabe ausgezeichnet. Vom ästhetischen Standpunkt aus betrachtet arbeitet das Theater auf dem Gebiet der Außenseiterkunst, auch als „Art brut" bezeichnet. Diese wandelt die Unbefangenheit der Schauspieler in eine künstlerische Gestaltungsform um.
Entsprechend gestaltet sich auch die Wahl des Materials. Njeupokojew und seine Bühnentruppe spielen Stücke von Gogol, Remisow und Puschkin, klassische russische Literatur mit starken und aufrichtigen Botschaften. Die Themen wie Gott, Liebe, Leben, Tod oder Glauben sind dabei keineswegs so speziell wie die Bezeichnung als Außenseiterkunst vermuten lassen würde. Die Existenz des Theaters selbst ist der beste Beweis dafür, dass diese Form der Auseinandersetzung mit der Thematik auch für die Gesellschaft von Interesse ist.
Wie die meisten „besonderen" Theaterprojekte muss die Truppe Njeupokojews sich selbst finanzieren und ohne ihre eigene Bühne auskommen. Aber neben einer gemieteten Bühne erwartet die ungekünstelten Künstler an jedem ihrer Auftrittsorte auch immer eine große menschliche Wärme und Zuneigung.
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
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