Scheidungsland Russland: Drum prüfe, wer sich ewig bindet

Foto: PhotoXPress

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Vom ewigen Bund der Ehe ist in Russland häufig nicht viel zu spüren: Gerade in einer noch frischen Ehe folgt schnell die Scheidung. Auch wenn die Kinder das Elternhaus verlassen, wird die Ehe auf eine harte Probe gestellt. Der Staat hat nun eine fragwürdige Lösung für das Scheidungsproblem.

Die Mehrzahl der Familiengeschichten endet in Russland laut Statistik mit einer Scheidung – jede zweite Ehe geht in die Brüche. Soziologen gehen von drei Hauptursachen des Scheiterns aus: Alkoholismus einer der Ehepartner, Geldprobleme und beengte Wohnverhältnisse. Häufig treten diese drei Faktoren gemeinsam auf. Die Regierung versucht nun, dem Problem durch finanzielle Daumenschrauben beizukommen, und hat die bei Ehescheidungen anfallenden Gebühren von umgerechnet unter 10 auf 685 Euro erhöht. Ob dies von Erfolg gekrönt sein wird, ist fraglich.
Im vergangenen Jahr heirateten in Russland 1,2 Millionen Paare, dem standen aber auch etwa 650 000 Scheidungen gegenüber. Bei der Scheidungsrate nimmt Russland mit diesen Werten im internationalen Vergleich einen traurigen Spitzenplatz ein.

Was führt zu einer Scheidung?

Jede dritte Ehe geht innerhalb der ersten drei Jahre in die Brüche, die Mehrzahl der Scheidungen findet bei Paaren im Alter von bis zu 35 Jahren statt. Die zweite kritische Phase einer Ehe beginnt nach 25 bis 30 gemeinsamen Jahren, also etwa ab dem Alter von 50. Ausschlaggebend ist hier meist, dass sich die Kinder nicht länger als Beziehungskitt eignen, da sie alt genug sind und ausziehen.
„Wenn die Kinder groß sind, haben die Paare oft kein gemeinsames Betätigungsfeld mehr. Das ist vergleichbar mit dem Abschluss eines Projektes. Die Ziele sind erreicht, die Inhalte erschöpft. Es gibt Familien, die es schaffen, gemeinsame Aktivitäten zu pflegen und die so alle Krisen überstehen. Meist aber sind es die Kinder, die eine Familie zusammenhalten“, erklärt der Leiter des psychologischen Zentrums Perekrestok, Kirill Chromow.

Die Staatliche Medizinische Universität in Rostow am Don führte eine aufschlussreiche Studie durch. Die Stichprobe umfasste 11 000 Paare, die bereits über zehn Jahre zusammenleben. Man fragte sie, ob man sich erneut für ihren Ehepartner entscheiden würde, wenn sie in die Vergangenheit zurückkehren könnten. Lediglich 100 Personen, also unter ein Prozent der Befragten, beantworteten diese Frage zustimmend.

„Ungeachtet der statistischen Häufigkeit von Trennungen kommen die Russen mit Scheidungen nur schwer zurecht. 70 Prozent der früheren Ehepartner bleiben für längere Zeit erbitterte Feinde“, erläutert der Familienpsychologe Kirill Chromow. „Fast immer löst eine Scheidung ein psychisches Trauma aus, vergleichbar mit dem Tod eines nahestehenden Menschen.“ Frauen belastet in dieser Situation meist die Angst vor einer Verschlechterung ihrer materiellen Situation und der allein ihnen überlassenen Verantwortung für das weitere Familienschicksal. Sie sind es in der Regel, die für die Kinder zu sorgen haben.

„Gesellschaftlich gilt eine stabile Ehe als Zeichen von Anständigkeit und Vertrauenswürdigkeit eines Menschen. Im Trennungsfall wird üblicherweise der Frau die Schuld gegeben: Sie habe ihre Herde nicht zusammengehalten, ihren Mann nicht verstanden, sie konnte ihn nicht halten. In dieser Hinsicht hat das russische Familienbild Ähnlichkeit mit islamischen Normen“, erklärt Alexander Sinelnikow, ein bekannter russischer Soziologe.

Was passiert danach?

Frauen entscheiden sich nur zögerlich für eine zweite Ehe. Ihr Dasein als Alleinerzieherin lehrt sie, die Rolle der Familienernährerin zu erfüllen und die Freiheit von männlicher Bevormundung zu genießen. Ihr Selbstbewusstsein steigt. Daher zählt bei weiteren Bindungen für sie allein die Liebe.

Die Männer befürchten im Trennungsfall vor allem einen Territorialverlust. Psychologisch betrachtet können sie ihre Regeln in der Wohnung, in der ihre Kinder leben, nicht länger durchsetzen, physisch sind sie gezwungen, sich eine neue Bleibe zu suchen. Angesichts eines solchen Angriffs auf ihre Macht kommen viele Männer ihren Verpflichtungen nur noch sehr begrenzt nach.

„Viele Männer ziehen sich zurück, helfen nicht länger bei der Erziehung der Kinder und unterstützen sie auch materiell nicht“, erklärt Christopher S. Swader, Dozent an der Higher School of Economics in Moskau. „Historisch hat sich ein Muster herausgebildet, nach dem eine Scheidung den teilweisen oder völligen Abbruch der Beziehung der Frau zu ihrem früheren Mann und der Kinder zu ihrem Vater zur Folge hat.“

Häufig versuchen Männer nach einer Trennung bei ihren Eltern unterzukommen, wo sie sich einen funktionierenden und geordneten Alltag erhoffen. Besondere Erwartungen knüpfen sie an ihre Mütter, die ihnen im Normalfall unter die Arme greifen. Wenn diese Rechnung nicht aufgeht, schließen sie eine neue Ehe. Sie heiraten eine Frau mit einer eigenen Wohnung. So finden Männer wieder zu Frieden und Macht.

Die Mehrheit der russischen Paare begreift die Ehe als Instrument der legitimen Herrschaft über einen Menschen. Das trifft vor allem auf Männer zu, die normalerweise eine Ehe nach ihren Regeln gestalten. 900 Frauen kommen jährlich durch Gewalthandlungen eifersüchtiger Männer ums Leben. 14 000 sterben an den Folgen häuslicher Gewalt, bevor sie den Schritt der Trennung schaffen.

Geschiedene Väter sehen ihre Kinder seltener

Bei jeder Scheidung sind die Kinder die Leidtragenden. Üblicherweise bleiben sie nach einer Trennung bei ihren Müttern. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts WZIOM unter Vätern, die zum Erhebungszeitpunkt seit weniger als fünf Jahren in Scheidung lebten, ergab, dass nur 44 Prozent ihre Kinder häufig sahen. Dieser Anteil verringerte sich im Laufe der Zeit kontinuierlich. Lag die Trennung zwischen fünf und neun Jahren zurück, hatten nur noch 32 Prozent der Väter häufigen Kontakt zu ihren Kindern. Waren es schon zehn Jahre, beantworteten diese Frage lediglich 26 Prozent der befragen Väter positiv. Der Anteil derer, die ihre Kinder selten sehen, stieg entsprechend von 44 auf 56 Prozent. Überhaupt kein Interesse an Kontakt haben unmittelbar nach der Scheidung zwölf Prozent und nach zehn und mehr Jahren 18 Prozent.

Die Häufigkeit des Kontaktes zwischen Vätern und Kindern nimmt auch ab, wenn die Beziehung mit der früheren Ehefrau durch Konflikte belastet ist. 17 Prozent der Väter verzichten in solchen  Fällen ganz auf Treffen mit ihren Kindern. Gelegentlich kommt es auch vor, dass Väter ihre Kinder der früheren Ehefrau entziehen. In der russischen Gesetzgebung existiert ein solcher Straftatbestand jedoch nicht.

„Nach dem Familienkodex haben die Väter die gleichen Rechte auf Erziehung ihrer Kinder wie die Frauen. Dies gilt auch dann, wenn ein Gericht entschieden hat, dass das Sorgerecht für das Kind bei der Mutter liegt“, erklärt Artjom Sajmenzew, Fachanwalt für Familienrecht.

Trotz der weitreichenden Folgen einer Ehescheidung sind Psychologen sicher, dass eine Trennung keine Tragödie sein muss, sondern auch Chancen für Wachstum berge. Versuche man zwanghaft, eine auseinanderbrechende Beziehung zu erhalten, bringe man so gesehen gleich vier Menschen um ihr Glück: sich selbst, den Ehepartner und schließlich auch die beiden Personen, mit denen das Ehepaar nach einer Trennung glücklicher sein könnte.

Anscheinend lassen sich von genau diesen Überlegungen Paare immer häufiger leiten. Sie ziehen ein „kurzes, aber abwechslungsreiches“ Zusammensein einem „langen und zufriedenen“ vor.

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