Die Bewohner des Moskauer Bezirks Birjulewo fordern eine Änderung der russischen Einwanderungspolitik. Foto: Ramil Sitdikov / RIA Novosti
Moskau kann man sich bildlich als Schichttorte vorstellen. Ihre Schichten verschmelzen fast nie, und von einer in eine andere vorzudringen, ist eher ein Abenteuer als ein alltäglicher Vorgang. Moskauer sind es gewohnt, über ausgetretene Wege von zu Hause zur Arbeit und zurück zu gehen, sich mit Leuten zu umgeben, die sie schon seit ihrer Kindheit oder Studentenzeit kennen, in Cafés zu gehen, wo auch ihre Freunde verkehren. Nachrichten über Vorkommnisse in einem weit entfernten Bezirk scheinen gelegentlich wie von einem anderen Stern, keinesfalls aus der eigenen Stadt, zu kommen.
Das Wort Birjulewo hören Moskauer allerdings recht häufig. Birjulewo ist eine Art Gattungsbegriff für einen weit entfernten und nicht sicheren Ort. Ein Moskauer Außenbezirk, der von der übrigen Stadt durch zwei Eisenbahnstrecken abgeschnitten ist und so eine Enklave bildet, in der das Leben sich durch vieles von dem der nahe gelegenen Schlafbezirke unterscheidet.
„Diese Gegend war schon vor zehn Jahren nicht sicher. Hooligans haben mir hier das Gesicht so zerschlagen, dass ich drei Wochen zu Hause bleiben musste und nicht arbeiten konnte. Aber damals war es nirgends in Moskau besonders sicher. Dann wurde es in den anderen Bezirken allmählich ruhiger. Hier aber blieb alles wie gehabt“, erzählt Juri, ein früherer Bewohner von Birjulewo. Anastassija wohnt hier schon ihr ganzes Leben lang. Sie bekommt insgesamt wenig davon mit, was in ihrem Bezirk passiert, sagt sie. Morgens früh fährt sie zur Arbeit ins Stadtzentrum. Spät abends kehrt sie zurück, müde vom Tag. Spaziergänge im Park von Birjulewo macht sie nicht.
Nikael Bikua-Mfantse ist Mitglied in der russischen Rudermannschaft. Er wuchs in Birjulewo auf. Jetzt, wo er die Möglichkeit hat, würde er gerne von hier wegziehen. „Ich möchte die Randalierer, die diese Krawalle angezettelt haben, nicht rechtfertigen. Wir leben aber in einem Land, dessen Regierung erst handelt, wenn das Volk laut wird. In Birjulewo sorgt das Migrantenproblem schon lange für Spannungen“, erzählte er in einem Gespräch mit sports.ru.
„Es leben hier tatsächlich sehr viele Migranten, man fühlt sich oft nicht sicher. Wenn ich mit meiner Frau in Birjulewo spazieren gehe, dann meide ich bestimmte Orte. Vor fünf Jahren wurde bei uns eine Parkanlage eröffnet, damit die Bewohner von Birjulewo sich in ihrer Freizeit auch draußen aufhalten und bewegen können. Aber sobald es dunkel wird, sind dort nur noch Migranten unterwegs. Sie achten unsere Gesetze und Regeln nicht, sie haben keinen Respekt vor unserer Kultur. Aber in diesem Bezirk liegt ohnehin einiges im Argen, die Einheimischen sind auch nicht unschuldig an der Situation“, bekannte der Sportler.
Oberflächlich betrachtet ist Birjulewo mit seinen Hochhäusern, Lebensmittelgeschäften und vielen Sammeltaxen – zu Fuß kommt man hier nicht zur Metro – ein ganz gewöhnlicher Moskauer Bezirk. Seit Kurzem gibt es einige Cafés mit fremdländischer Küche. Wie der Inhaber eines dieser Cafés erzählt, mangelt es nicht an Gästen. Niemand möchte abends ins Stadtzentrum fahren, man kann sich auch hier mit Freunden treffen. Die aserbaidschanische Küche dieses Lokals kommt allgemein gut an, zu den Stammgästen zählen auch Vertreter der örtlichen Polizeibehörden. Als der Konflikt zwischen russischen Bewohnern und Migranten eskalierte, hatte der Wirt große Angst um sein Geschäft. „Ich kann dieses Verhalten überhaupt nicht verstehen. Wozu trägt man in der Stadt ein Messer bei sich? Das mag in den Bergen vielleicht so üblich sein, aber Moskau ist doch kein Bergdorf“, sagt er.
Es gibt allerdings im Bezirk auch Einrichtungen, zu denen man, was die Moskauer amüsiert, „mit russischem Pass keinen Zutritt“ hat. In einem dieser Lokale treffen sich die Einheimischen (genauer gesagt: die hier lebenden Migranten) zum Tanzen. Ich brauchte einen Guide, um hineingelassen zu werden. Am Eingang mussten sich die Gäste von einer großen und schlecht gelaunten Frau mustern lassen. Man erzählte später über sie, sie habe einmal als Aufseherin in einem Frauengefängnis gearbeitet. Es gab zwar auch slawische Gäste, das waren aber in der Regel junge Frauen in Begleitung ihrer Freunde – ihrem Aussehen nach Männer kaukasischer oder zentralasiatischer Herkunft.
In der Nacht von Sonntag auf Montag war das Lokal sehr gut besucht. Man hatte den Eindruck, hier nicht nur nicht in Moskau zu sein, sondern auch nicht im Jahr 2013. Man fühlte sich zurückversetzt in die „wilden 90er“, in die Zeiten des aufblühenden Straßenhandels, Schießereien auf offener Straße und minderwertigen Alkohols. Unser Guide prüfte zuerst Flaschen und Etiketten, bevor er grünes Licht gab, den ausgeschenkten Alkohol zu probieren. Auf der Tanzfläche räkelten sich Damen wie in Filmen, die von billiger Straßenprostitution handeln.
Leute, die sich zu den regelmäßigen Besuchern dieses Lokals zählen, berichteten, Schlägereien seien hier eine alltägliche Erscheinung. Man sei gut beraten, niemanden unnötig zu provozieren und unauffällig zu bleiben. Den ganzen Abend über wollte mein Gefühl nicht weichen, hier vollkommen fehl am Platze zu sein. Auf eine unerklärliche Weise war mir klar, dass mein slawisches Aussehen dafür verantwortlich war. Es verriet mich als Fremde. Da ich Korrespondentin und damit Gast war, für Menschen mit Verbindung zum Kaukasus der Gast aber eine heilige Sache ist, sprach man höflich mit mir. Viele erstaunte Blicke aber verrieten, dass meine Umgebung eindeutig nicht begriff, was ein „fremder Mensch“ hier zu suchen hat.
Natürlich leben auch in allen übrigen Moskauer Bezirken Migranten. So hört man häufig Klagen von Bewohnern des Moskauer Ostens über die Zuwanderer. Polizeiberichten zufolge kommt es immer wieder vor, dass Migranten im Stadtzentrum Häuser beziehen, die für den Abriss vorgesehen sind. Migranten, die in Kellern leben, wurden auch in dem wohlhabenden Südwesten der Stadt festgenommen. Solche Fälle steigern den Unmut der einheimischen Bevölkerung.
Aus Verbrechensstatistiken lassen sich jedoch keine eindeutigen Schlüsse ziehen. Nach Angaben der Moskauer Sicherheitsbehörden konzentriert sich die Mehrzahl der Straftaten im Zentrum der Stadt. Meist sind das kleinere Diebstahlsdelikte, zum Beispiel von Taschendieben. Aus den Statistiken geht außerdem nicht hervor, ob ein registriertes Verbrechen von einem Straftäter aus einer Kaukasusrepublik begangen wurde. Diese Personen sind schließlich russische Staatsbürger. Der Durchschnittsmoskauer aber nimmt sie als Migranten wahr. Äußerlich heben sie sich von der russischen Bevölkerung ab, ihrem Pass nach aber sind sie Russen und gelten daher nicht als Migranten.
In der Nacht zum 10. Oktober fiel im Süden von Moskau der 25-jährige Jegor Schtscherbakow einem tödlichen Angriff zum Opfer. Er trat auf der Straße für seine Freundin ein, die von einem Mann mit kaukasischem Aussehen angesprochen worden war. Im Verlaufe des Konflikts verletzte der Kaukasier Schtscherbakow mit einem Messer tödlich. Am 12. Oktober fand neben der Bezirksabteilung der Polizei eine unangemeldete Demonstration statt. Die Menschen forderten, den Straftäter festzunehmen und das örtliche Gemüselager zu schließen. Am folgenden Tag kam es am Ort der Messerstecherei zu einer spontanen Versammlung aufgebrachter Bürger, die in Massenkrawalle ausartete. Ungefähr 400 Personen wurden festgenommen. Gegen zwei von ihnen wurden Strafverfahren eingeleitet, man hielt sie 48 Stunden lang in Gewahrsam. Über etwa 70 Personen wurden behördliche Protokolle erstellt, bevor man sie wieder auf freien Fuß setzte. Alle anderen ließ man nach einer Befragung wieder frei. Am darauffolgenden Tag erging die Anordnung, das Gemüselager zu schließen. Der Tatverdächtige nach der Tötung von Jegor Schtscherbakow wurde in einem Vorort von Moskau festgenommen. Er ist ein Staatsbürger Aserbaidschans. Das Migrantenproblem löste Diskussionen unter Abgeordneten und hohen Beamten aus.
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