Blinder Alltag in Russland

Die Ursprünge des Dorfes Rusinowo liegen in der Zeit der UdSSR, als die Idee vorherrschte, dass alle sehbehinderten Menschen zusammen an einem Ort leben sollten.  Foto: ITAR-TASS

Die Ursprünge des Dorfes Rusinowo liegen in der Zeit der UdSSR, als die Idee vorherrschte, dass alle sehbehinderten Menschen zusammen an einem Ort leben sollten. Foto: ITAR-TASS

Früher hat man eigene Städte für sie gebaut, heute müssen sie ohne staatliche Hilfe auskommen: Blinde in Russland bestimmen ihr Leben selbst. Die meisten wollen einfach ihre Existenz sichern, doch einige möchten darüber hinaus auch am gesellschaftlichen Leben teilhaben.

Das Dorf Rusinowo liegt etwa 100 Kilometer von Moskau entfernt. In der Sowjetzeit galt es als Vorzeigearbeits- und -wohnort für blinde Menschen. Im Laufe der Zeit geriet es aber immer mehr in Vergessenheit, sodass heute vorwiegend ältere Menschen dort leben – jene, die den Umzug in eine andere Stadt nicht schafften.

Einer dieser Menschen ist der 55-jährige Sergej Mulloew, ein grauhaariger Mann mit schwerer Brille. Seine Sehkraft beträgt gerade einmal zwei Prozent, was ihn nicht daran hindert, täglich mit dem Zug nach Moskau zur Arbeit zu fahren.

„Meine Lebensumstände haben mich dazu gebracht, täglich nach Moskau auf die Arbeit zu fahren. Ich mache das nur für meine vier Kinder", erklärt Sergej. Derzeit arbeitet der stark Sehbehinderte in einer Fabrik für Schreibwaren und stellt Plastilin, Filzstifte und Kugelschreiber her. Für seine Arbeit bezahlt man ihm in der Hauptstadt gerade einmal 340 Euro, was im Vergleich zum Durchschnittslohn in Moskau, der bei 1 300 Euro liegt, sehr wenig ist. Dennoch ist sein Verdienst dort um ein Vielfaches höher als in seinem Heimatort Rusinowo.

Laut Schätzungen des Russischen Blindenverbands leben in Russland etwa eine Million sehbehinderte Menschen. Genaue Angaben dazu existieren jedoch nicht, da in Russland keine Statistiken zu blinden und sehbehinderten Menschen geführt werden. Eines steht allerdings fest: Bei dem Großteil dieser Menschen handelt es sich um Mitbürger im arbeitsfähigen Alter, welche durch das russische System, das lediglich auf die Bedürfnisse von gesunden Menschen ohne physische Einschränkungen ausgelegt ist, an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden.

Die Ursprünge des Dorfes liegen in der Zeit der UdSSR, als die Idee vorherrschte, dass alle sehbehinderten Menschen zusammen an einem Ort leben sollten. Daher baute man für sie Städte, in denen man ihnen Wohnungen, Arbeit, Schulen und Rehabilitationszentren bot. Doch mit dem Zerfall der Sowjetunion brach auch dieses System zusammen und die sehbehinderten Menschen blieben – ohne Hilfe, sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren – in diesen „Reservaten" zurück.

 

„Das Wichtigste ist, den Schritt zu wagen"

Im Gegensatz zu Sergej ist der 34-jährige Pawel Obiuch vollkommen blind. Dennoch verlässt er jeden Morgen genauso wie viele andere Moskauer sein Haus und fährt mit der Metro zur Arbeit. Als einzige Stütze auf diesem Weg dienen ihm sein feines Gehör und sein Blindenstock. Viele seiner Mitmenschen drehen sich nach ihm um, es ist doch eine Seltenheit auf Moskaus Straßen, einen blinden Menschen mit Blindenstock oder Blindenführhund anzutreffen.

Genauso wie Sergej hat auch Pawel früher in einem Betrieb des Russischen Blindenverbands gearbeitet. Doch Pawel wagte nach einiger Zeit den mutigen Schritt in ein neues Leben: „Ich wollte sehende Freunde haben und dort hingehen, wo alle anderen auch hingehen", so Pawel. Der 34-Jährige musste sich entscheiden: „Entweder schotte ich mich ab und bleibe zu Hause, oder ich gehe über mich hinaus und wage diesen Schritt." Pawel entschied sich für den mutigen Schritt – doch nicht ohne Angst: „Am liebsten würde ich mir eine Methode ausdenken, mit der man diese Barriere überwinden und bewirken könnte, dass blinde Menschen selbstsicherer sind."

Pawel Obiuch in der Moskauer U-Bahn. Foto: Vivian del Rio

Heute unterscheidet sich Pawel mit seinem selbstsicheren Auftreten und seinem stolzen und geraden Gang beinahe komplett von anderen Blinden in Russland. Auch sein gutes Gehalt zeugt davon. „Ich kann für mich selbst sorgen. Ich verdiene zwar nicht so gut wie andere Moskauer, aber es reicht aus, um eine Wohnung zu mieten und nicht hungern zu müssen", meint Pawel.

Pawel hat seine Blindheit zu seiner Stärke gemacht. Er ist dadurch zu einem aufmerksameren und einfühlsameren Menschen geworden, der nicht nur hinhört, sondern auch seinen Mitmenschen zuhört. Als Pädagoge, Jurist und Manager arbeitet er in dem international tätigen Unternehmen „Dialog im Dunklen", einer Firma, die seit 25 Jahren besteht, Business-Trainings in 30 Ländern abhält und seit zwei Jahren auch in Russland aktiv ist. Pawel leitet in Russland die Gruppe blinder Business-Trainer, die sich damit beschäftigen, die sozialen Kompetenzen sehender Menschen zu

Das Projekt „Dialog im Dunklen" wurde vom Deutschen Andreas Heinecke ins Leben gerufen, der auch das gleichnamige Unternehmen gegründet hat.

Er half schon vor 25 Jahren seinem blinden Kollegen auf der Arbeit, wobei er begriff, dass blinde Menschen ihren eigenen Beitrag in der Gesellschaft leisten können. Er erkannte damals auch, dass sehende Menschen nur sehr wenig über ihre blinden Mitmenschen wissen.

Zu Beginn des Projekts organisierte Andreas Heinecke in Hamburg eine interaktive Ausstellung, bei der die Besucher in vollkommener Dunkelheit verschiedene Alltagssituationen zu bewältigen hatten. Der „Dialog im Dunkeln" wurde im Februar 2012 in Russland gestartet.

stärken. Zu den Firmen, deren Mitarbeiter Pawel coacht, zählen das Stahlunternehmen Severstal, Coca Cola und verschiedene Erdölkonzerne.

Der Unterricht wird in völliger Dunkelheit abgehalten. Denn es sei erwiesen, dass man sich ohne etwas zu sehen besser auf seinen Gesprächspartner, dessen Intonation und damit auch dessen Wüsche konzentrieren könne. Wenn man eine Aufgabe lösen muss, spricht man dann mehr über das eigentliche Thema, hört die Gesprächspartner besser und hört ihnen gleichzeitig auch besser zu: „Wenn jemand insgeheim anderen das Wort verbieten möchte, dann wird das innerhalb von zehn Minuten ersichtlich", erklärt Pawel. „Außerdem kommen so auch bei manchen versteckte Führungsqualitäten zum Vorschein."

Pawels Leben ist zudem voll mit aufregenden Ereignissen, die das Leben eines sehenden Menschen langweilig aussehen lassen. Er ist schon drei Mal im Tandem mit dem Fallschirm aus einer Höhe von 4 000 Metern gesprungen und plant, demnächst auch alleine diesen Sprung zu wagen. Er fährt regelmäßig Ski und liest viel. So scheint es, dass die Brailleschrift für Blinde schon längst überholt ist, denn blinde Menschen lesen nicht mehr, sondern hören Bücher. Genauso zeitgemäß sind das iPhone des 34-Jährigen, da das Menü des Smartphones sprachgesteuert ist, wie auch sein Facebook-Profil, das etwa 300 Freunde zählt und mit denen Pawel regelmäßig in Kontakt ist.

Der Business-Trainer meint zudem, dass ihm bei seiner Lebensumstellung vor allem eines geholfen habe: die Tatsache, dass es den Menschen egal ist, wer du bist und wie du aussiehst, ob du siehst oder nicht. „Barrieren existieren nur im Kopf", glaubt er. Seinen Schritt hinaus aus der Welt der Blinden vergleicht Pawel mit einem Fallschirmsprung: „Der unangenehmste Moment ist der, wenn man aus dem Flugzeug springt und begreift, dass sich unter einem vier Kilometer Leere befinden, das Flugzeug aber schon davongeflogen ist. Das Schwierigste besteht darin, eben diesen Schritt zu wagen. Danach setzt die Euphorie ein."

Ob Pawel in Russland damit einen neuen Trend setzt, ist unklar, denn ein staatliches Programm zur Integration von blinden Menschen in die Gesellschaft gibt es nicht. „Deswegen wird es auch weiterhin insolvente Firmen geben, bei denen sich Menschen um Arbeit bewerben werden – damit sie wenigstens ein geringes Einkommen haben", erklärt Aleksandr Rakowitsch, Vorsitzender des Blindenverbands in Rusinow. Heute gibt es in 74 Regionen Russlands Betriebe des Russischen Blindenverbands, wo mehr als 10 000 Menschen mit Behinderungen tätig sind.

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