Laut einer Meinungsumfrage sind drei Viertel der Russen glücklich. Foto: Alexej Malgawko/RIA Novosti
Umfragen des Allrussischen Zentrums zur Erforschung der öffentlichen Meinung (WZIOM) haben ergeben, dass 76 Prozent der in Russland lebenden Menschen sich für glücklich halten. Nur 17 Prozent der Befragten geben an, nicht glücklich zu sein. Damit ist der Glücksindex seit dem Frühjahr 2014 nur minimal gesunken, von 64 auf 59 Punkte. Besonders glücklich sind junge Leute (86 Prozent). Bei den älteren bezeichnen sich nur noch 64 Prozent der Menschen als glücklich. Menschen aus bildungsfernen Schichten sind am wenigsten glücklich (61 Prozent).
Für die meisten Russen bedeutet Glück familiäre Bindungen, und Unglück wird häufig mit materiellen Schwierigkeiten verbunden. In ihrem persönlichen Umfeld halten 45 Prozent ihre Mitmenschen für glücklich. Bei 15 Prozent der Befragten waren Verwandte und Bekannte jedoch überwiegend unglücklich, bei 34 Prozent halten sich glückliche und unglückliche Menschen die Waage. Familiäre Probleme sind dabei nicht der Grund für das Unglücklichsein, diesen Grund nennen nur drei Prozent. Weitere drei Prozent geben an, unglücklich zu sein, weil ihnen Bindungen fehlen und sie sich einsam fühlen.
Stepan Lwow, Leiter der Verwaltung für sozialpolitische Untersuchungen des WZIOM, hält vor allem die Entwicklung des Glücksindex in den letzten zehn bis 15 Jahren für interessant. „Der Glücksindex ist ein wichtiger Gradmesser für den Zustand einer Gesellschaft", ist er überzeugt. „Das Ergebnis dient als Grundlage für die Einschätzung sozialer Entwicklungen", führt er weiter aus. Die Forscher fragen nach dem persönlichen Glück und dem sozialen Selbstbefinden, erklärt Lwow. Glück könnten die Menschen auch in politisch schwierigen Zeiten empfinden, wenn sie mit ihrem persönlichen Umfeld zufrieden seien. In den 1990er-Jahren allerdings seien die Russen eher unglücklich gewesen, ebenso gelte das Jahr 2011 nicht als ein glückliches.
Für 40 Prozent der Russen ist die Familie der Glücksquell. 14 Prozent sind glücklich, weil sie gesund sind. Jeder Zehnte definiert Glück über seine Arbeit. Nur vier Prozent der Befragten macht vor allem ihr hoher Verdienst glücklich. Das zeige, wie stark die russische Gesellschaft durch persönliche Beziehungen geprägt sei, meint Lwow. „Wirtschaft und Politik spielen nur eine untergeordnete Rolle. Obwohl das traditionelle Familienbild im Wandel ist, sind familiäre Bindungen für die Russen noch immer von großer Bedeutung. An zweiter Stelle stehen andere soziale Kontakte", so Lwow.
In Russland seien die Menschen nicht glücklicher oder unglücklicher als anderswo auf der Welt, glaubt Lwow. Gleichwohl belegte Russland im Jahr 2012 beim Weltglücksindex, den das britische Meinungsforschungszentrum New Economics Foundation ermittelt, lediglich den 122. Platz von insgesamt 151. Die glücklichsten Menschen der Welt lebten demnach in Costa Rica, die unglücklichsten in Botswana. Die USA liegen auf Platz 105, Großbritannien auf Platz 41, die Bundesrepublik Deutschland auf Platz 46.
Wie aussagekräftig ist der Glücksindex?
Tatjana Karabtschuk, stellvertretende Leiterin des Labors für vergleichende soziologische Forschungen an der Hochschule für Ökonomie, hält die Ergebnisse des Weltglücksindex ebenfalls für beachtenswert. Die Aufmerksamkeit, die ihm von Regierungen und Nichtregierungsorganisationen weltweit entgegengebracht würde, sei verdient, findet sie. „Der Glücksindex hat eine ähnliche Aussagekraft wie das BIP. Er hilft, gesellschaftliche Entwicklungen vorauszusagen wie etwa Unruhen", so Karabtschuk. „Das Befinden der Bevölkerung muss fortwährend beobachtet werden, mindestens einmal im Jahr, um herauszufinden, in welche Richtung sie sich bewegen wird." Bei
Veränderungen in einem Land, wie sie derzeit in Russland zu beobachten seien, ließen sich aber auch bei monatlichen Befragungen deutliche Veränderungen feststellen, bemerkt Karabtschuk.
Anna Warga, Vorsitzende der Vereinigung der Familienpsychologen, hält indes nicht so viel vom Glücksindex wie Lwow oder Karabtschuk. „Glück unterliegt einer starken Volatitlität", sagt sie. Rückschlüsse auf die Einstellung zu den Ereignissen im Land könnten aus dem Glücksindex schon gar nicht gezogen werden, glaubt sie.
Warga gibt zu bedenken, dass die meisten der Befragten wohl eine unverfängliche Antwort gegeben hätten, die nicht allzu viel von ihrem tatsächlichen Empfinden preisgeben würde: „Sie werden gefragt, ob alles gut sei, und antworten mit Ja, es sei alles gut, weil sie Familie und Kinder haben. Das ist einfach eine sozial verträgliche Antwort."
Zudem hänge die Antwort ganz stark vom Fragesteller ab. Während man gegenüber dem Vorgesetzten vielleicht zugeben würde, dass alles gut laufe
, würde man gegenüber dem Nachbarn nicht wahrheitsgemäß antworten, um keinen Neid zu wecken, meint sie: „Beim Nachbarn wird dann geklagt, wie schlecht doch alles sei. Damit will man sich selbst schützen, damit der andere nicht auf die Idee kommt, einem das Glück zu nehmen." Die Antworten zeigten lediglich, dass die Russen einen starken Überlebenswillen hätten, den Warga historisch begründet: „Ein großer Teil der Bevölkerung sind Nachfahren leibeigener Bauern. Die Vorfahren mussten stets Furcht vor möglichen Bestrafungen haben. Von Generation zu Generation haben sie weitergegeben, dass es besser ist, sich anzupassen und nur das zu sagen, was der Fragende hören will. Je höher das Niveau des Autoritarismus im Lande ist, desto mehr sozial verträgliche Antworten ohne jegliche Aussagekraft werden gegeben", resümiert Warga. Den Glücksindex hält sie daher für eine „höchst zweifelhafte soziale Kategorie."
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