Foto: Darja Kosyrewa, Russland HEUTE

Am Weihnachtsvorabend bekam das orthodoxe Moskau eine der wichtigsten Reliquien des Christentums als Leihgabe: die Gaben der drei Weisen aus dem Morgenland, die normalerweise auf dem Berg Athos in Griechenland verwahrt werden. Eine riesige Schlange versammelte sich vor der Christ-Erlöser-Kathedrale, um sie zu verehren. Tausende Menschen standen bis zu neun Stunden an, um in die Kirche zu gelangen. Der religiöse Impetus von Moskauern und Hauptstadtbesuchern kam in einer großangelegten Aktion zum Ausdruck: Der öffentliche Verkehr kam zum Stillstand, unzählige hinzugerufene Polizeikräfte, Rettungswagen und Sanitäter sorgten für Ordnung. Ich wollte von den Gläubigen wissen, was sie bewegt.

Die endlose Schlange ist von der Fahrbahn durch Metallgitter abgetrennt und in Segmente aufgeteilt. So können die Massen abschnittsweise immer näher an die Kathedrale herangeführt werden. Alle lächeln. Die Polizisten sind freundlich.

„Warum stehen Sie in dieser Wahnsinnsschlange?", frage ich zwei Frauen mit beseeltem Gesichtsausdruck. „Das ist eine Prüfung", sagt die eine. „Eine Prüfung auf dem Weg zur Reliquie. Wenn du kommst und sofort durchgelassen wirst, empfindest du sicher nicht diese Gnade, als wenn du dich dafür anstrengen musstest. Der orthodoxe Glaube ist selbst so: Die Heiligen haben große Taten vollbracht. Ein rechtgläubiger Mensch muss sich also immer ein bisschen anstrengen, damit er etwas bekommt."

Wegen des großen Andrangs ist hier alles voller Polizei; Rettungsdienste und der Katastrophenschutz sind vor Ort, als ob die Gefahr zugleich von den Leuten ausginge und sie bedrohe. Ringsum gibt es Staus, Busse und überfüllte Metrostationen. Die Stadt ist es nicht gewohnt, dass sich eine spirituelle Bewegung spontan ihren Weg bahnt.

Ein unangenehmer Nieselregen setzt ein. Am Horizont kann man die wunderschönen, doch endlos weit entfernten weißen Wände und Goldkuppeln erkennen.

„Sind Sie müde vom Anstehen?"

„Ja, müde und ausgefroren."

 

Die Stimmung ist angespannt

Auf der Fahrbahn laufen Leute die Absperrung entlang und suchen eine Lücke, um sich ohne Warteschlange vorzudrängeln. Ein junger Mitarbeiter der Spezialpolizei wird von Großmütterchen belagert, die um bevorzugten Einlass bitten, weil ihnen alles weh tut. Etwas weiter weg keift ein anderes Großmütterchen zwei Polizisten an und schlägt dabei mit ihrer Stofftasche nach ihnen: „Wie kann man nur so mit den Leuten umspringen! Wieso gibt es keinerlei Informationen? Warum stehen wir so lange an?" Irgendwo in der Tiefe der Menge schreit eine Frau aufgebracht, dass man so lange ansteht, weil sich vorne VIPs an der Schlange vorbeimogeln. Das Anstehen ist wirklich hart, aber eben deshalb, weil Tausende von Menschen in die Kathedrale wollen.

Ein ausländischer Gebrauchtwagen mit dubiosen Typen fährt heran.

„Was ist hier denn los?"

„Wir stehen für die Reliquie an."

„Was für eine Reliquie?"

Zwei Großmütterchen unterhalten sich angeregt und trinken dabei Tee aus Plastikbechern, der von den freiwilligen Helfern ausgeschenkt werden:

„Meinen Enkel hab ich nicht mitgenommen, er würde das alles nicht aushalten. Aber eigentlich liebt er so etwas. Abends bete ich immer mit ihm! Dann fragt er mich: ‚Oma, jetzt werde ich nicht mehr schlecht träumen, oder?'"

Nebenan die Metrostation, die Bushaltestelle und die Kasse am Schiffsanleger. Die Schlange bewegt sich langsam und folgt dem Verlauf der Moskwa. Links hat man Trinkwasserbehälter, dampfende Feldküchen und Kunststofftoilettenhäuschen aufgestellt. Auf der anderen Straßenseite gibt es große Innenhöfe mit luxuriösen Büroflächen und ebenso luxuriösen Wohnungen.

„Es wundert mich nicht, dass sich ihr Diktiergerät nicht einschalten lässt", sagt die grellrosa geschminkte Rentnerin Lidia. Wir warten auf den Bus, um zum Anfang der Schlange zu fahren, zu Fuß ist es zu weit. Hier verhält sich die Technik überhaupt seltsam: Kameras funktionieren nicht, Filme sind überbelichtet.

Lidia ist 66 Jahre alt. Neben ihr steht ihre Freundin Lena, genauso geschminkt, sie ist 73. „Haben Sie von unserem Wissenschaftler gehört, der einen wundersamen Heilapparat erfunden hat?", fragt Lidia dann doch ins Diktiergerät, das endlich funktioniert. „Er hat auf ein elektronisches Medium Informationen von Myrrhe weinenden Ikonen aufgezeichnet!" Lidia und ihre Freundin nehmen mich in ihre Mitte. Sie sind sehr munter und fröhlich, ihre Augen blitzen.

„Glauben Sie, viele warten hier in der Hoffnung auf ein Wunder?", frage ich.

„Ich glaube, sogar alle. Die Leute müssen doch an irgendwas glauben. Früher glaubte man an Stalin und Lenin, zu jeder Zeit und an jedem Ort glauben die Leute an das ihre. Und bei Lenotschka und mir lebt der Glaube in der Seele. Und deshalb strengen wir uns an, stehen Schlange und werden das sehen, was dem Herrn selbst geschenkt wurde. Gott selbst wurde es geschenkt, wir wollen es mit eigenen Augen sehen und berühren. Wir werden mit eigenen Augen sehen, dass Christus vor so vielen Jahren tatsächlich geboren wurde, ihm hat man die Gaben geschenkt und bis heute können wir sie mit eigenen Augen betrachten! Was sollen wir denn sonst tun? Piroggen backen und fernsehen?", lacht Lidia.

 

Auch junge Menschen sind da

Ganz vorn in der Schlange steht die 18-jährige Aljona in einer modischen grellrosa Jacke, ähnlich der Schminke der Rentnerinnen.

„Warum stehst du hier in der Schlange?"

„Ich möchte die Reliquie berühren", sagt Aljona mit einem Lächeln, an ihrer Seite ihr sympathischer Freund. „Um die Gnade zu spüren, zu empfinden.

Ich bin in einer gläubigen Familie groß geworden, wir gehen in die Kirche, empfangen das Abendmahl. Sogar dort in der Kirche verspürst du diese Leichtigkeit. Und hier natürlich auch. Im vorletzten Jahr, als der Gürtel der Jungfrau Maria hergebracht wurde, bin ich auch hergekommen, und als ich mich vor ihm verneigte, wurde mir wirklich leichter ums Herz. Da waren so kleine symbolische Gürtelchen an die Reliquie angelehnt, zum Mitnehmen. Und bis heute küsse ich den, wenn es mir schlecht geht oder der Kopf schmerzt, und alles wird gut."

Die Kathedrale verlassen die Leute nicht dichtgedrängt, sondern wie ganz normale Passanten, sie halten Abstand voneinander und haben müde, angespannte Gesichter.

„Wie lange haben Sie angestanden?", frage ich zwei in sich gekehrte Frauen. „Acht Stunden."

„Wie ist Ihr Eindruck? Lohnt es sich, anzustehen?"

Die Frauen kommen plötzlich zur Besinnung und fangen an zu strahlen wie jemand nach einem großen Wohlgenuss. „Natürlich lohnt es sich! Wir sind extra aus Woronesch zur Reliquie gefahren."

Die Frauen gehen weiter und setzen erneut ein müdes, angespanntes Gesicht auf.