Natalja Wodjanowa spielt mit dem Mädchen im Kinderzentrum der Stadt Krymsk, stark betroffen von der Überschwemmung im Sommer 2012. Foto: Vera Kostamo/RIA Novosti
Ihre ältere Schwester Oxana ist Autistin. Das war wahrscheinlich der Grund dafür, dass Sie die Stiftung Obnaschonnyje Serdza ins Leben gerufen haben?
Unsere Stiftung beschäftigt sich nicht nur mit Autismus, sondern mit Besonderheiten in der Kindesentwicklung insgesamt. Bei Oxana wurde anfangs zerebrale Kinderlähmung diagnostiziert. Erst vor Kurzem wurde festgestellt, dass sie an Autismus leidet, sodass eine gewisse persönliche Erfahrung natürlich vorhanden ist. Aber als ich die Stiftung ins Leben rief, haben mich einfach nur Kinder interessiert, die in schwierigen Verhältnissen aufwachsen, da ich selbst ein solches Kind war.
Oxana war das glücklichste Mitglied unserer Familie. Sie ist ein echter Sonnenschein, und wir haben sie stets mit Liebe und Fürsorge umgeben. Aber es war sehr schwierig – das ist ein Kindheitstrauma, das erst jetzt in etwas sehr Positives umgeschlagen ist. Ich wuchs in einer emotional schwierigen Umgebung auf. Da gab es Spott von den Gleichaltrigen, Misserfolge in der Schule und schließlich Selbstverachtung. Aber das lag nicht an Oxana oder daran, dass wir ein behindertes Kind großgezogen haben.
Wir lebten unter fürchterlichen Bedingungen. Meine Mutter war alleinerziehend, und ich konnte keine Freunde zu mir einladen, wie andere Kinder das taten. In der Schule kam ich auf keinen grünen Zweig, obwohl ich eigentlich kein dummes Kind war. Ich hatte nur einfach keine Möglichkeit, die Hausaufgaben zu Hause zu erledigen, und ohne Hausaufgaben bekommt man schlechte Noten. Ich hatte nur wenige Freunde und arbeitete, seit ich elf Jahre alt war. Die Interessen meiner Altersgenossen schienen mir so realitätsfern. Ich lebte völlig isoliert. Die schönsten Erinnerungen verbinde ich mit dem Spielen – das waren die seltenen Momente, in denen mich die auf dem Hof herumtollenden Jungs an ihrem Leben teilhaben ließen.
Ich erinnere mich an einen sonnigen Tag, alle hatten gute Laune, und wir spielten zusammen. Aber wir spielten in Kellern und auf Baustellen, da die einzige Rutsche, die wir hatten, mit ihren paar Bänken um sie herum immer von Jugendlichen belagert war, die dort rauchten, tranken und uns verjagten. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum ich als Erwachsene auf die Idee kam, schöne große Kinderspielplätze mit Grünflächen einzurichten. Jedes Kind braucht einen Spielplatz, aber für ein Kind, das in schwierigen Verhältnissen aufwächst, bietet dies zusätzlich noch einen Rückzugsraum. Hier kann es der Wirklichkeit entfliehen und das Leben mit anderen Augen sehen, einfach tief durchatmen und leben. Das war ein konkretes Projekt. Und die örtlichen Behörden haben das ganz positiv aufgenommen. Heute haben wir 107 Spielplätze in 79 Ortschaften über ganz Russland verteilt.
An einer Konferenz zum Thema Autismus, die Ihre Stiftung vor Kurzem in Moskau veranstaltete, nahmen Fachleute aus verschiedenen Ländern teil. Eine Konferenzteilnehmerin sagte, dass es wohl nicht gelingen werde, die westlichen Erfahrungen eins zu eins auf Russland zu übertragen, da wir hier eine besondere Mentalität hätten. Nehmen Sie diese besondere Mentalität auch wahr?
Der Mensch ist wie ein Samenkorn. Wenn man ihn in gute Erde einbettet, wird er zu einem prächtigen Baum, in schlechter Erde wird er zu Unkraut.
Ja, bei uns gibt es viele Probleme, die Zeit und unsere Geschichte sind gegen uns. Wenn deine eigenen Bedürfnisse nicht berücksichtigt werden, weil du deine Kinder großziehen musst, denkst du dir: „Warum sollte ich mir noch über irgendwelche anderen Kinder Gedanken machen?" Aber sobald die Situation besser wird, ändert sich die Einstellung der Menschen.
Dann haben wir ja auch noch sehr schwierige geografische Verhältnisse in unserem Land. In manchen Ecken Russlands gibt es alleine schon deswegen mehr Schwierigkeiten, weil es dort kalt und unwirtlich ist. Aber wir schreiten voran, entwickeln uns weiter, wenn auch langsam. Es treten Leute in Erscheinung, die zu Änderungen bereit sind, einfach deswegen, weil sie sich schon eher oben als unten befinden.
Bei einer Ihrer Auktionen haben Sie unter anderem einen „Kurs mit Lagerfeld" versteigert, und eine Dame zahlte einen stattlichen Betrag, um diesen Kurs zu ersteigern. Wie überreden Sie Menschen, an Ihren Aktionen teilzunehmen?
Das sind persönliche Kontakte, wobei unsere Beziehungen sich über Jahre entwickelt haben. Und es braucht wirklich Jahre, bis man ein gewisses Vertrauen aufgebaut hat. Das ist ein langwieriger Prozess. Da verkehrt man lange Zeit in der Welt der Mode und dann erfährt man ganz unvermittelt in einem Gespräch, dass Bekannte bereit sind, die Stiftung zu unterstützen.
Es ist auch nicht so, dass wir kreuz und quer alles zusammentragen und verkaufen. Unsere Auktionen haben immer ein Thema. Und das erfordert große Mühe. Alles muss organisiert werden. Die Bieter müssen vorsichtig an die Sache herangeführt werden, damit sie kaufen. Es besteht immer die Furcht, dass anschließend jemand kommt und sagt: „Sie haben viel Geld.
Her damit." In Russland ist das durchaus möglich, deshalb haben die Leute manchmal Angst, öffentlich mit großen Summen zu hantieren. Aber ich bin froh, dass alle in meiner Umgebung so positiv gestimmt sind. Und es hilft auch, dass die Versteigerungen sehr erfolgreich sind, weil die Leute dann auch gerne weiter mit uns zusammenarbeiten.
Gerade vor einem Jahr haben wir damit begonnen, die lokale Wirtschaft zur Teilnahme an unseren Projekten zu bewegen. Das ist eine Möglichkeit für die Unternehmen, das internationale Parkett zu betreten. Es ist weltweite Praxis, dass Unternehmen, die gutes Geld verdienen, sich auch der Wohltätigkeit widmen. Im Westen, wo der Markt heiß umkämpft ist, hat die Wirtschaft bereits entdeckt, dass man auch über die Teilnahme an solchen Aktionen Kunden für sich gewinnen kann. Die Menschen überlegen sich sehr genau, wo sie einkaufen: bei jemandem, der Kindern hilft, oder bei jemandem, der nur sich selbst der Nächste ist.
Sie leben jetzt in Paris. Was hat Sie nach ihrem Umzug dorthin am meisten beeindruckt?
Es hat mir immer Schwierigkeiten bereitet, darüber nachzudenken, wie rückständig wir doch sind. Dass auf einem Spielplatz in Paris oder New York autistische Kinder oder Kinder mit zerebraler Kinderlähmung spielen, ist die normalste Sache der Welt. Dort starrt keiner das Kind an, als ginge von ihm eine Gefahr aus. Dort spielen alle Kinder gemeinsam – das hat mich am meisten beeindruckt.
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
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