Eine kritische Umfrage des russischen TV-Senders „Doschd“ hat für große Empörung gesorgt. Foto: Grigori Sysojew/RIA Novosti
Um den Kabelsender „Doschd" ist ein Skandal entfacht. Auslöser war eine am Dienstag durchgeführte Zuschauerbefragung zur Blockade von Leningrad während des Zweiten Weltkriegs. Die Umfrage stieß auf heftige Kritik seitens der Regierung und in der Öffentlichkeit. Einige Kabelbetreiber nahmen den Sender vom Netz, setzten aber später die Ausstrahlung wieder fort.
Der Beginn einer geschichtlichen Debatte?
Der Fernsehkanal „Doschd" wird seit 2010 ausgestrahlt und hat sich seitdem einen Namen als Forum kritischer Diskussionen gemacht. Seine wichtigste Zielgruppe sind aktive Internetnutzer und Bewohner großer russischer Städte. Etwa zwei Drittel der Sendungen sind Live-Übertragungen und werden später wiederholt.
Am Sonntagabend wurde während einer Sendung auf der Webseite des Senders und über soziale Netzwerke eine Umfrage unter den Fernsehzuschauern durchgeführt. Man bat das Publikum um eine Einschätzung, ob das Leben vieler Leningrader während der Blockade im Zweiten Weltkrieg hätte gerettet werden können, wenn die Stadt sich der deutschen Wehrmacht ergeben hätte. Leningrad war fast 900 Tage lang belagert worden, die Bevölkerung verteidigte sie gegen die Besetzung durch deutsche Truppen.
Der Chefredakteur der Webseite von „Doschd" Ilja Klischin beteuerte, die Umfrage sofort aus dem Netz genommen zu haben, nachdem er sie dort gesehen hatte. Doch die Initiative des Senders löste dennoch große Empörung in der Öffentlichkeit aus. Am Donnerstag nahm die Staatsanwaltschaft von Sankt Petersburg sogar Ermittlungen wegen des Verdachts extremistischer Äußerungen auf.
Am Vorabend hatten einige Kabelbetreiber den Sender vom Netz genommen, wie sie sagten, „aus wirtschaftlichen Erwägungen". In seiner im Internet veröffentlichten Pressemitteilung erklärte „Trikolor TV", „eine Verletzung der Gefühle von Veteranen" sei „nicht hinnehmbar". Die Verbreitung der Umfrage durch den Sender halte das Unternehmen für überaus bedenklich, fordere sie doch „im Grunde zu einer Umwertung der Schlacht um Leningrad während des Zweiten Weltkriegs" auf. Das TV-Unternehmen bezeichnete die „Besudelung der ruhmreichen Seiten der
russischen Geschichte, der Heldentaten der sowjetischen Bevölkerung in den Schlachten des Großen Vaterländischen Krieges und des Gedenkens an den großen Sieg" als inakzeptabel und brachte seine Hoffnung zum Ausdruck, dass das Geschehene nichts weiter als die Folge eines peinlichen Missverständnisses sei.
Die Leitung von „Doschd" dagegen ist überzeugt, dass die kritische Haltung gegenüber dem Sender schon früher bestanden habe und die Umfrage lediglich ein Auslöser des offenen Konflikts gewesen sei. Die Redaktion versuchte, zu beruhigen: „Wir haben gegen kein Gesetz verstoßen und wollten niemanden beleidigen. Wenn jemand unsere Umfrage als kränkend empfunden hat, dann möchten wir uns aufrichtig entschuldigen", sagte der Chefredakteur von „Doschd" Michail Sygar. Die Generaldirektorin des Senders Natalja Sindejewa erklärte, dass das Unternehmen nicht das erste Mal in Schwierigkeiten sei: Schon einmal zuvor hatte der Sender wegen einer Sendung über Vorstadthäuser hoher Beamter Probleme bekommen.
Russen sollten ihre Vergangenheit reflektieren
Am Dienstagabend, als drei Kabelnetzbetreiber den Fernsehkanal aus ihrem Programm genommen hatten, forderten viele Zuschauer Schadensersatz für den Sendeausfall. Der Sender sollte in jedem Fall weiterhin zu empfangen sein, betonte Ljudmila Alexejewa, Menschenrechtlerin und Vorsitzende der Moskauer Helsinkigruppe. „Die Frage war sehr unglücklich. Sicherlich ist das aber auch ein sehr sensibles Thema. Dafür gab es entsprechend große Schelte, und das sollte die Kritiker der Umfrage besänftigen", erklärte Alexejewa. Doch auch sie fühlte sich angegriffen: „Ich habe diese Sendung gesehen. Die Diskussion war für alle Beteiligten schmerzhaft", sagte sie und stellte fest, man solle sich in diesem Fall aber auf eine reine Kritik beschränken.
Maßnahmen wie das Abschalten oder gar die Schließung des Senders seien unzulässig, sagte der Moderator und Historiker Nikolaj Swanidse. Zwar gehe es hier um eine heikle Frage, die Russen sollten aber auch bereit sein, ihre Geschichte kritisch zu diskutieren. „Als Historiker vertrete ich die Meinung, dass wir den Krieg auch aus dieser Perspektive beleuchten sollten. Wir sollten die Wahrheit nicht nur über Hitler, sondern
auch über die Entscheidungen unserer Regierung erfahren", erklärte der Experte. „Warum wurde die Zivilbevölkerung nicht vor der Blockade evakuiert, warum wurde die Versorgung nicht sichergestellt? Die Blockade kostete rund 1,5 Millionen Menschen das Leben, wer hat das zu verantworten? Die Deutschen haben keine Angst vor der Wahrheit über ihre Geschichte, die Vergangenheit mindert ihre Selbstachtung nicht. Auch in unserer Geschichte gibt es Kapitel, für die sich die Regierung entschuldigen müsste. Waren diese enormen Opfer wirklich nötig?"
Die Umfrage rechtfertige es nicht, den Sender vom Netz zu nehmen, so Swanidse. „Historische Themen haben immer das Potenzial, die Gesellschaft zu spalten. Die russische Gesellschaft aber zerfällt bei jeder Gelegenheit in feindliche Lager, seien es Fragen zur eigenen Geschichte oder zur Bewertung aktueller Ereignisse", sagte der Historiker. „Wenn der Fernsehsender so unvermittelt aus dem Angebot der Netzbetreiber fliegt, dann stecken dahinter politische Motive. Diese Umfrage ist nur ein Vorwand, den wahren Grund kenne ich nicht. Hoffen wir, dass der Konflikt beigelegt wird."
Konsens der Gesellschaft soll nicht wackeln
Pawel Salin, Direktor des Zentrums für politologische Forschungen der Finanzuniversität in der Regierung der Russischen Föderation, äußerte sich zu dem Thema unnachgiebiger. Der Vaterländische Krieg müsse von historischen Laien ausschließlich in einem positiven Licht dargestellt werden, als „Heldentat des Volkes". „Für Russen ist die Würdigung des Großen Vaterländischen Kriegs ein Grundwert, der die Gesellschaft zusammenhält. Diese Beziehung zum Krieg wurde in ihrer Bedeutung
besonders in den 90er-Jahren greifbar, als die Regierung sie als Stützpfeiler für ihre Politik nutzte. Heute steht diese Frage überhaupt nicht mehr zur Diskussion. Unterschiedliche Standpunkte zur Geschichte werden heute nicht zugelassen und ich halte das für richtig. Dieses historische Ereignis verdient es, von Leuten, die keine Experten sind, positiv gewürdigt zu werden", betonte er.
Das Publikum von „Doschd" jedoch sei zahlenmäßig zu schwach, um eine ernsthafte Resonanz in der Gesellschaft erzeugen zu können. „Die Befragung von ‚Doschd' rührt tatsächlich am Konsens der Gesellschaft. Die über den Sender verbreitete Frage war falsch formuliert. Hätte einer der föderalen Fernsehsender eine solche Umfrage gestartet, wäre ein heftiger gesellschaftlicher Konflikt unvermeidbar gewesen. Der Zuschauerkreis von ‚Doschd' aber ist relativ klein und spezifisch, daher führte dieser Fauxpas lediglich zu einer Kritik an dem Sender", erklärte der Experte.
Valentina Matwijenko, ehemalige Bürgermeisterin von Sankt Petersburg und Sprecherin des russischen Föderationsrates, zeigte sich schockiert von der Umfrage. „Es ist mir unbegreiflich, wie man am Vorabend des 70. Jahrestags der Befreiung Leningrads von der Blockade eine solche Frage stellen kann", schreibt sie auf ihrer Webseite. Die von „Doschd" initiierte Umfrage zur faschistischen Belagerung von Leningrad sei ein „Akt der Blasphemie", sagte Matwijenko weiter. Von einer Schließung des Senders halte jedoch auch sie nichts.
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
Abonnieren Sie
unseren kostenlosen Newsletter!
Erhalten Sie die besten Geschichten der Woche direkt in Ihren Posteingang!