Die Paralympischen Spiele bieten eine Möglichkeit, dass die Gesellschaft auf die Probleme in den Bereichen Integration und Rehabilitation aufmerksam wird, und sich die stereotype Meinung über Menschen mit Behinderung ändert. Foto: Wladimir Pesnja/RIA Novosti
Die Paralympische Bewegung begann in Russland offiziell erst vor 18 Jahren: 1996 wurde das Russische Paralympische Komitee gegründet. Es stand vor großen Herausforderungen, denn der paralympische Sport war hierzulande weitgehend unbekannt. Die benötigten Sporteinrichtungen waren in den 1990er-Jahren noch nicht vorhanden, finanzielle Förderungen steckten in ihren Anfängen, die Ausbildung der Trainer begann gerade erst. Doch innerhalb kürzester Zeit gelangen Russland große Fortschritte in der Entwicklung des paralympischen Sports. Heute ist das Land eines der Zentren der internationalen Paralympischen Bewegung.
1988, zu Zeiten der Perestroika, nahmen erstmals sowjetische Sportler an den Paralympics teil. Allerdings waren lediglich Atlethen mit Sehbehinderung an den Start getreten. Sie holten dann aber in der Sportart Leichtathletik gleich 21-mal Gold, so dass die Sowjetunion in der Gesamtwertung mit 55 Medaillen immerhin den zwölften Platz einnehmen konnte.
Seit 2006 zählt Russland bei den Paralympischen Winterspielen zu den besten Mannschaften in der Gesamtwertung. 2012 gelang den Athleten schließlich auch bei den Sommerspielen der Durchbruch: Mit 102 Medaillen (36 goldenen, 38 silbernen, 28 bronzenen) schaffte es Russland nicht nur hinsichtlich der Medaillenanzahl, sondern auch mit Blick auf die Gesamtwertung unter die Top fünf.
Russlands Erfolgsrezept
Die russische Paralympische Mannschaft der Sommerspiele verdreifachte sich seit ihrer Gründung 1996: In Atlanta nahmen 60 Sportler an den Spielen teil, in London 2012 bereits 182. Auch die Mannschaft der
102 Medaillen holte das russische paralympische Team 2012 bei den Sommerspielen in London, davon 36-mal Gold, 38-mal Silber und 28-mal Bronze.
13 Millionen Menschen mit Behinderung leben in Russland, das sind etwa neun Prozent der Bevölkerung. Doch viele sind sozial isoliert: Nur 817 200 können einer geregelten Arbeit nachgehen.
Winterspiele erlebte seither starken Zuwachs: 2002 traten bei der Olympiade in Salt Lake City 26 Athleten an, in Sotschi 2014 werden es 64 Sportler sein.
Der Erfolg der paralympischen Athleten hat drei Gründe. An erster Stelle steht ihre herausragende Motivation. Für Menschen mit körperlicher Behinderung bedeutet die Teilnahme und der Sieg bei den Paralympics vor allem eins: die Chance, sich selbst zu beweisen und zu zeigen, dass man erfolgreich ist und alles schaffen kann, was man sich vorgenommen hat.
Der zweite Faktor ist das Sportmanagement, zu dem auch die reibungslose Zusammenarbeit zwischen dem russischen Sportministerium und dem Paralympischen Komitee zählt. Im Sportmanagement konzentriert man sich vorwiegend auf die Unterstützung von Kindern und Jugendlichen mit physischer oder psychischer Behinderung, auf die professionelle Ausbildung von Trainern im Bereich des Rehabilitationssports und auf die Schaffung von Arbeitsplätzen.
Den dritten Erfolgsfaktor bildet die konstante Unterstützung des paralympischen Sports durch Regierung und Wirtschaft. Nur zum Vergleich: Die chinesische Mannschaft, absoluter Spitzenreiter bei den Olympischen Sommerspielen, wird vom Staat finanziert, in den USA hingegen werden die Athleten vorwiegend von privaten Investoren gesponsert.
In Russland ist die Regierung Schirmherr des paralympischen Sports. Mit staatlichen Mitteln werden Trainingscamps für die Mannschaft gebaut, Sportschulen für Kinder und Jugendliche finanziert und Anreize für Sportler
und Trainer geschaffen. Die Wirtschaft spielt vor allem in der Popularisierung des paralympischen Sports eine entscheidende Rolle.
So verleiht beispielsweise die Stiftung Parasport gemeinsam mit dem Russischen Paralympischen Komitee jährlich den Preis „Rückkehr ins Leben" an Sportler, Trainer und Ärzte, die einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung des paralympischen Sports geleistet haben.
Aus den bisherigen Erfahrungen lässt sich sagen, dass sich die Veranstaltung der Paralympischen Spiele sehr positiv auf die Lage von Menschen mit Behinderungen in den jeweiligen Ländern auswirkt.
Vor allem fördert sie ihre Integration in die Gesellschaft. Als Musterbeispiel kann China genannt werden: Nach den Paralympics von 2008 hat Peking im Laufe von fünf Jahren viel unternommen, das es Behinderten einfacher macht, sich in der großen Stadt zurechtzufinden.
Auch in Russland ist die Hoffnung groß, dass die Gesellschaft ihre von Stereotypen geprägte Haltung gegenüber Menschen mit körperlichen Einschränkungen überdenkt. Denn laut einer Statistik des russischen Ministeriums für Arbeit und Soziales leben dort 13 Millionen Menschen mit Behinderung, das sind etwa neun Prozent der Bevölkerung.
2012 hat Russland die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung ratifiziert und das staatliche Programm „Dostupnaja sreda"
(Barrierefreie Umwelt) ins Leben gerufen, das auf gravierende Probleme im Bereich der Rehabilitation von behinderten Menschen aufmerksam machen soll.
Es mangelt an Barrierefreiheit, einheitlichen Methoden und Standards, durch die eine für behinderte Menschen zugänglichere Umwelt sichergestellt werden kann. Hinzu kommt, dass sehr viele Menschen mit körperlichen Einschränkungen noch immer sozial inaktiv sind und keinen Zugang zum Arbeitsmarkt haben. So gehen von knapp drei Millionen Behinderten im erwerbsfähigen Alter nur 817 200 einer Arbeit nach, 77 Prozent dagegen bleiben gesellschaftlich isoliert.
Sotschi als Wendepunkt
Die Paralympischen Spiele könnten zu einem Wendepunkt in den Beziehungen zwischen Menschen mit körperlichen Einschränkungen und ihrem sozialen Umfeld werden. Es geht darum, diverse Vorurteile
abzubauen, die einer Integration von behinderten Menschen im Wege stehen. Dabei gilt es vor allem, die emotionalen Barrieren zwischen Menschen mit und Menschen ohne Behinderung abzuschaffen.
Noch immer schrecken viele Eltern davor zurück, ihre Kinder in inklusive Schulen zu schicken, in denen Kinder mit Behinderung gemeinsam mit Kindern ohne körperliche Einschränkung unterrichtet werden. Einen Trend zu inklusiven Schulen gibt es erst seit den 2000er-Jahren. Heute bieten nur etwa zwei Prozent aller russischen Schulen inklusiven Unterricht an.
Die Paralympischen Spiele bieten also eine weitere Möglichkeit, dass die Gesellschaft auf die Probleme in den Bereichen Integration und Rehabilitation aufmerksam wird, und sich die stereotype Meinung über Menschen mit Behinderung ändert. Aber die Spiele sind kein Allheilmittel.
Mit dem Sportprogramm in Sotschi wird ein neuer Rekord in der Geschichte der Paralympischen Spiele aufgestellt. Die Athleten kämpfen neun Tage lang um noch nie dagewesene 72 Medaillensätze in fünf Sportarten. Zum Vergleich: Bei den Paralympischen Spielen in Vancouver 2010 gab es lediglich 64 Medaillensätze zu gewinnen. Überdies wird es bei diesen Spielen auch erstmals Para-Snowboarding als eigene Disziplin innerhalb des Alpinsports geben.
Russlands stärkste Kontrahenten sind Deutschland, Kanada und die USA. Bei den letzten Paralympischen Spielen in London fieberten über vier Milliarden Menschen mit den Athleten mit. Innerhalb von vier Jahren ist es gelungen, die Zahl der teilnehmenden Nationen von 146 auf 164 zu erhöhen, wodurch auch die Anzahl der Athleten von 4154 auf 4310 im Vergleich zu den Spielen in Peking 2008 gestiegen ist.
Oleg Bojko ist Präsident des Investmentunternehmens Finstar. 1996 erlitt er eine schwere Verletzung an der Wirbelsäule. Heute ist er Leiter der Kommission zur Entwicklung der Paralympischen Bewegung in Russland.
Die vollständige Vesion dieses Beitrags erschien zuerst bei Russia Direct.
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