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Soziologen vom Forschungsinstitut der Higher School of Economics haben eine Studie unter russischen Eltern mit der Frage durchgeführt, in welchem Beruf sie ihre Kinder in der Zukunft gerne sehen würden. Demnach sind die drei führenden Berufe Jurist, Arzt und Betriebswirt. In den großen Städten sind auch die Berufe des Wissenschaftlers, Ingenieurs, Unternehmers, Programmierers und Übersetzers populär. Künstlerberufe hingegen sind weniger beliebt bei den Eltern, denn sie haben das Image, finanziell instabil zu sein.
Eltern spielen bei der Berufswahl eine wichtige Rolle
Wie der Leiter des Forschungsprojekts „Monitoring des innovativen Verhaltens der Bevölkerung“ und wissenschaftlicher Mitarbeiter des Forschungsinstituts der Higher School of Economics Konstantin Fursow erzählte, werden die Berufe des Juristen und des Betriebswirts in der Bevölkerung mit einem stabilen Einkommen und guten Karriereperspektiven assoziiert.
Der Arztberuf hingegen war zwar immer schon mit Prestige verbunden, doch bei den Eltern wirklich populär wurde dieser Beruf erst vor Kurzem. Denn erst mit der Entwicklung der Privatmedizin und eines Systems der freiwilligen Versicherung begannen die Einkünfte von Ärzten zu steigen. Bei diesem Beruf fallen übrigens die Bedürfnisse des Staates mit den
Wünschen der Eltern zusammen. So hat die russische Regierung die Anzahl der kostenlosen Studienplätze an russischen Universitäten im Studienfach Medizin erhöht. Dasselbe tat sie auch für die Berufsgruppen im Ingenieurs- und Technikbereich sowie in den Naturwissenschaften.
Der Studie zufolge orientiert sich ein Viertel der Abiturienten bei der Berufswahl an der Meinung der Eltern, weitere 25 Prozent hingegen treffen die Entscheidung aufgrund von Informationen aus dem Internet.
„Auch wenn viele der Abiturienten ihren Beruf auf Weisung der Eltern wählen, heißt das nicht, dass ihre Meinung über sich selbst und die eigene Zukunft mit dieser zusammenfällt“, sagt Irina Blinnikowa, promovierte Psychologin und Mitarbeiterin am Institut für Arbeitspsychologie. „Meistens sind die Schüler aufgrund des höheren Alters ihrer Eltern mit ihnen einverstanden. Doch im Moment entwickelt sich in Russland auch eine andere Tendenz, wonach Eltern sich komplett weigern, auf ihr Kind einzuwirken und ihm stattdessen raten, es solle lernen, was ihm am ehesten am Herzen liegt.“
Das Portal für Arbeitgeber und Arbeitsuchende „Superjob.ru“ hat die Präferenzen der Oberstufler analysiert und festgestellt, dass sie ihren Beruf nach zwei Schlüsselparametern aussuchen: die Höhe des zu erwartenden Gehalts und die Möglichkeit, einfach und schnell die Karriereleiter zu erklimmen. Das Ansehen des Berufs, der soziale Status, die Selbstverwirklichung und die Möglichkeit, einen Nutzen für andere zu bringen, spielen nur für jeden zehnten Abiturienten eine größere Rolle.
Blinnikowa zufolge zogen die Russen in den Neunzigerjahren noch Berufe aus dem geisteswissenschaftlichen Bereich vor. „An den Universitäten wurden massenweise Fakultäten für Psychologie, Soziologie und Fremdsprachen eröffnet. Der Bedarf an diesen Berufen war in der Bevölkerung riesig“, sagt die Arbeitsexpertin. „In der Sowjetzeit war es quasi unmöglich, diese Berufe zu erlernen: Es gab kaum Fakultäten für Geisteswissenschaften und die nahmen auch nur sehr wenige Studenten auf. Deshalb mussten alle anderen, ungeachtet der eigenen Wünsche, Ingenieurs- und technische Berufe erlernen. Außerdem gab es solche Berufe wie den Psychologen überhaupt nicht.“
Von Geisteswissenschaftlern zu Beamten
In den letzten Jahren ist laut Blinnikowa eine umgekehrte Tendenz beobachtbar: „Der Bedarf an geisteswissenschaftlichen Berufen sinkt kontinuierlich. In erster Linie hängt das mit der Übersättigung des Arbeitsmarkts zusammen. Die Arbeitgeber brauchen heute Personen mit technischem Hintergrund. Langsam beginnen die Abiturienten, auf die Signale des Arbeitsmarktes zu reagieren. Zu Zeiten des UdSSR waren Ingenieure hoch angesehene Leute und nun kehrt dieses Bewusstsein langsam zu den Russen zurück“.
Professor Jewgenij Koschokin, Rektor der Akademie für Arbeit und Sozialverhältnisse, sagt, dass im letzten Jahrzehnt eine Umdenken hin zu einem nutzenmaximierenden, marktwirtschaftlichen Denken stattgefunden habe: Schulabgänger der Sowjetzeit seien emotional freier in ihrer
Berufswahl als die heutigen Schüler gewesen, denn sie hätten sich mehr auf ihre eigenen Interessen und Träume gestützt und nicht darauf, was sie in der Zukunft verdienen werden. „Die Abiturienten wechselten zu einer Marktpragmatik. Bei der Wahl des Berufs beginnt das Geld, die Schlüsselrolle zu spielen. Sie wollen später in einem stabilen Beruf arbeiten, deshalb träumen viele von ihnen von einer Beamtenkarriere“, erklärt der Professor.
Koschokin zufolge kommen die Abiturienten aber nur zögerlich in die Ingenieursberufe: „Sie sehen keinen Industrieaufschwung des Landes und keine Entwicklungsperspektiven dieses Wirtschaftssektors. Deshalb sind sie nicht sicher, dass sie nach dem Studienabschluss einen guten Arbeitsplatz finden werden.“
Der Arbeitsmarktexperte Denis Kaminskij sagt, dass die Mehrzahl der Berufseinsteiger nicht genügend über den zukünftigen Beruf und über die Karriere nachdenken würde und deshalb nur verschwommene Vorstellungen über den Arbeitsmarkt hätte: „Es gibt nur wenige Oberstufenschüler, die zehn führende Betriebe nennen können, in denen
sie gerne arbeiten würden. Die Mehrheit kann nicht klar formulieren, welche Erwartungen sie an den künftigen Arbeitsplatz hat. Eine der ehrlichsten Antworten im Jobinterview – unabhängig von der konkreten Position – ist: Ich möchte mit Menschen arbeiten. Doch nur wenige können erklären, was das konkret heißt.“
Kaminskij bemerkt außerdem, dass jeder am liebsten bei Gazprom, Lukoil, Apple oder Google arbeiten möchte, unabhängig von Beruf, Herkunft, Geschlecht, Alter oder Religion.
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