Foto: Sergej Kusnezow/RIA Novosti
Die einträglichsten Geschäfte auf der Krim machen seit drei Wochen die Fotostudios. Die Menschen stehen in langen Schlangen an, denn alle wollen das Gleiche: vier Fotos für den russischen Pass. Die benötigen jetzt alle – egal an welcher Stelle sie ihr Kreuz beim Volksentscheid gesetzt haben. Unsere Korrespondentin sprach mit den Menschen in den Schlangen darüber, was sich außer dem Pass in ihrem Leben auf der Krim ändern wird.
Julia (30), Friseurin im Mutterschutz
„Zum Volksentscheid bin ich nicht gegangen, weil ich niemanden finden konnte, der auf mein Kind aufpasst. Ansonsten wäre ich sehr gern gegangen. Obwohl ich mich noch nicht entschieden hatte, wofür ich stimmen werde. Ich bin natürlich für Russland, aber ich habe viele Verwandte in der Ukraine, und das hat mich etwas zurückgehalten. Sie haben uns immer unterstützt. Schade, dass sie nun nicht mehr hierherkommen können.
Das Einzige, was mich vor dem Volksentscheid gestört hat, war, dass die russische Sprache verboten wurde. Meine Oma spricht kein Ukrainisch und konnte die Formulare des Rentenantrages nicht ausfüllen. Also mussten wir uns dafür an einen Übersetzer wenden. Wenn sie Medikamente kaufte, verstand sie nicht, was auf den Beipackzetteln geschrieben stand. Ich habe Ukrainisch ja in der Schule gelernt und spreche die Sprache. Aber meine Eltern sprechen kein Ukrainisch und auch meine Tochter kann nur Weihnachtslieder auf Ukrainisch singen. Wenn sie jetzt im Kindergarten mit ihr nur noch auf Ukrainisch reden würden, wäre das ein Problem."
Aljona (45), Krankenschwester
„Beim Volksentscheid habe ich für die Angliederung an Russland gestimmt. Die Krim wollte schon seit Langem russisch werden – darüber wurde ständig auf Arbeit und zu Hause diskutiert. Russland hat sich allmählich hochgerappelt, aber in der Ukraine kommt es ständig zu Revolutionen und Machtwechseln.
In erster Linie hoffen wir auf stabile Verhältnisse. Asarow, der damalige Ministerpräsident der Ukraine, versprach, die Löhne zum Oktober anzuheben und alle hofften auf eine Verbesserung. Aber jetzt gibt es in Kiew eine andere Regierung und man darf sich wohl keine Hoffnungen mehr machen, dass dieses Versprechen eingehalten wird.
In der Europäischen Union haben wir garantiert nichts zu suchen. Meine Schwiegermutter wohnt in Riga, mein Onkel in Estland. Nachdem die baltischen Staaten der Europäischen Union beigetreten waren, ging es dort mit der Wirtschaft nach unten, es gibt dort keine Arbeit. Sie schuften anderthalb Schichten, bekommen aber nur eine Schicht bezahlt. Die Lebensmittel, die die Menschen dort essen, kommen weiß der Teufel woher. Als sie uns hier besuchten, haben wir ein Hühnchen gebraten, gepfeffert und gesalzen, und sie haben sich darüber gefreut, als ob es eine Delikatesse wäre."
Pawel (28), Jurist
„Beim Volksentscheid habe ich für die aktuelle Regierung gestimmt. Dura lex sed lex – das Gesetz ist hart, aber es ist das Gesetz. Als Jurist kann ich das nicht beanstanden. Als Individuum kann ich damit nicht einverstanden sein, aber die Gesetzeslage ist nun einmal so.
Jetzt wird es für die Juristen viel zu tun geben. Die natürlichen und juristischen Personen werden viele Fragen haben, selbst die staatlichen Einrichtungen wissen momentan nicht, was sie machen sollen. Als ich an
der Uni studiert habe, hatten wir eine Vorlesung mit dem Titel „Vergleichende Sprachanalyse der Rechtsgrundlagen der Russischen Föderation und der Ukraine". Das Witzige war, dass es Paragraphen gibt, die genau übereinstimmen – einschließlich grammatischer Fehler.
Ich weiß, dass es in Russland nur in etwa einem Prozent der Urteile einen Freispruch gibt, aber das ist nahezu überall im postsowjetischen Raum der Fall. Wenn ein Angeklagter vor dem Tribunal steht, trauen die Richter sich meist nicht, Systemfehler einzugestehen. Gegenwärtig bewegt sich auf der Krim bei den Gerichten und Notariaten nichts. Sie arbeiten natürlich – aber sie gleichem einem Auto, das nirgendwo hinfährt. Ich habe aber gehört, dass die Richter bereits damit begonnen haben, Urteile auf der russischen Rechtsgrundlage zu fällen."
Natalia (26), Autorin von Lern-Büchern für Kinder
„Die Ukraine ist schlecht. Russland ist auch schlecht, aber es ist das kleinere Übel. Das Wichtigste ist Stabilität, dass alles ruhig ist und es keinen Krieg gibt. Mit irgendwelchen grundlegenden Veränderungen rechne ich eigentlich nicht. Warum sollte es uns hier besser gehen als den Menschen überall sonst in Russland? Es wird sein wie überall. Auf keinen Fall werden wir die Krim verlassen. Was sollten wir anderswo tun? Die Verwandten aus der Ukraine haben uns angeboten, zu ihnen zu gehen, wenn es uns zu gefährlich wird. Aber wenn du eine Familie und eine Wohnung hast, fährst du nicht so ohne weiteres weg.
Ich habe zwei Hochschulabschlüsse – einen als Lehrerin für ukrainische Sprache, den anderen als Juristin. Ich habe keine Vorstellung, was mich in Zukunft erwarten wird. Braucht man in Russland ukrainische Juristen und Philologen?"
Wladimir Pawlowitsch (80), Rentner
„Am Volksentscheid habe ich mich beteiligt – keine Frage! Ich habe natürlich für Russland gestimmt. Ich bin 1964 hierhergekommen. Eigentlich bin ich ja Ukrainer. Aber es macht mir nichts aus, meine Staatsbürgerschaft zu wechseln. Was sollte ich nachtrauern? Man muss mit dem Strom schwimmen und auf bessere Zeiten hoffen. Vorgestern
habe ich meine erste Rente in Rubeln bekommen, gestern habe ich hier erstmals Schaschlik für Rubel gegessen. Probleme, die ukrainischen Griwnas in russische Rubel einzutauschen, gibt es keine. Das habe ich schon ein paar Mal gemacht! Das Schlimmste ist vorbei und alles wird gut.
Ich habe acht Geschwister, die in der Ukraine leben. Als unsere Eltern noch am Leben waren, trafen wir uns jedes Jahr – wir fuhren extra dorthin. Inzwischen telefonieren wir nur noch. Sie glauben mir nicht und sagen: In euren Läden gibt es nichts zu kaufen und bald werden sie euch den Strom abstellen. Ich aber antworte ihnen: Uns geht es gut!"
Andrej (48), Immobiliengutachter
„Ich bin russischer Reserve-Offizier, sodass ich nicht zum ersten Mal einen russischen Pass bekomme. So ein Übergang ist ein ökonomisch sehr komplizierter Prozess, und es ist nicht sicher, was besser ist. In der Ukraine gab es die die Hoffnung auf eine Einbindung in die Europäische Union, in Russland die Hoffnung auf Stabilität. Allerdings schwelgen die Menschen in Russland auch nicht gerade im Wohlstand. Das Beste wäre, man würde aus der Krim eine Sonderwirtschaftszone in der Russischen Föderation machen.
Ich habe gegenwärtig keine Arbeit, zudem erwarten mich größere Ausgaben für die Änderung meiner Dokumente. Schließlich benötige ich ein russisches Diplom und Zeugnisse, ich muss Mitglied in der russischen Gewerkschaft werden – das alles kostet nicht gerade wenig. Könnte man in der Übergangszeit mit den alten Zeugnissen und Zertifikaten arbeiten, wäre das eine große Erleichterung."
Anastasija (24), Unternehmerin
„Ich wurde in Usbekistan geboren, aber als ich gerade einmal ein Jahr alt war, zogen meine Eltern in die Ukraine. Eigentlich möchte ich keinen
anderen Pass, das ist doch schließlich mein Land, meine Heimat. Es ist bedauerlich, dass alles so heruntergewirtschaftet wurde. Für mich zählt in erster Linie, dass die Krim die Krim bleibt. Es kann gar nicht schlechter werden, wenn wir jetzt in die Russische Föderation kommen.
Das Wichtigste ist, dass es den Menschen gut geht, dass unsere alten Menschen in Ruhe leben können, dass die Kinder eine Zukunft haben. Ich bin jetzt im besten Alter, um Kinder zu bekommen, und ich plane bereits mit meinem Freund, eine Familie zu gründen. Es gab eine Phase, da war ich wegen der politischen Entwicklung in Panik – wie wird es weitergehen? Da wollte man sich nicht noch zusätzlich um ein Kind Sorgen machen. Aber jetzt habe ich wieder Vertrauen in die Zukunft.
In der Ukraine studiert mein Cousin. Ich glaube nicht, dass er Probleme haben wird, auf die Krim zu reisen – das ist ein lösbares Problem, schließlich können sich verschiedene Länder miteinander arrangieren."
Dieser Beitrag erschien zuerst bei der Zeitschrift "Russkij Reporter".
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