Toleranz macht Schule

In der ersten Schulstunde wird den Kindern  ausführlich erklärt, was Menschen mit körperlicher Behinderung ausmacht. Foto: Organisation für Menschen mit Behinderung "Perspektiwa"

In der ersten Schulstunde wird den Kindern ausführlich erklärt, was Menschen mit körperlicher Behinderung ausmacht. Foto: Organisation für Menschen mit Behinderung "Perspektiwa"

Moskauer Schüler lernen auf spielerische Art und Weise den Umgang mit körperlich behinderten Menschen kennen. Dabei wird den Vorurteilen und der Abneigung von Kindern gegenüber Menschen mit Behinderung begegnet.

Seit nunmehr zehn Jahren findet an Moskauer Schulen der sogenannte „Unterricht in Güte“ statt. Dabei können sich die Schüler mit körperlich behinderten Menschen unterhalten und so mehr über ihr Leben und ihren Alltag erfahren. Diese Schulstunden werden von Perspektiwa, einer gemeinnützigen Organisation für Menschen mit Behinderung, durchgeführt. Dafür wurde für jede Altersgruppe ein spezielles Programm ausgearbeitet, das jeweils aus drei Unterrichtseinheiten besteht. Im laufenden Schuljahr haben bereits über 1 800 Moskauer Schulkinder an dem „Unterricht in Güte“ teilgenommen.

 

Spiele und Dialog bauen Vorurteile ab

In der ersten Schulstunde lernen die Kinder die beiden Kursleiter Alexander Sajkin und Julia Kuleschowa kennen. Die Beiden erklären ihnen ausführlich, was Menschen mit körperlicher Behinderung eigentlich ausmacht. Sajkin selbst ist sehbehindert, Kuleschowa hat infolge einer

Operation Probleme beim Sprechen und dem Bewegen ihrer Hände. Die acht Jahre alten Zweitklässler hören gespannt und aufmerksam zu. Ein Mädchen fragt anschließend verwundert: „Was sehen Sie denn mit den Augen? Etwas Schwarzes?“ Darauf antwortet Sajkin mit einem geduldigen Lächeln: „Nein, ganz im Gegenteil: etwas Helles, eine Art hellen Nebel.“

Alexander Sajkin und Julia Kuleschowa erklären den Kindern, wie man mit behinderten Menschen richtig umgehen muss, um sie nicht zu verletzen. So sollte man beispielsweise „sehbehindert“ statt „blind“ sowie „gehörlos“ statt „taub“ sagen. Auch wird die Bezeichnung „Person mit eingeschränkten Fähigkeiten“ statt der Bezeichnung „Behinderter“ bevorzugt.  

Danach steht das Spiel „Simulation“ auf dem Plan. Die meisten Kinder machen dabei mit Freude mit. Während des Spiels laufen die Kinder mit verbundenen Augen durch das Klassenzimmer und versuchen, Spielzeug nur mithilfe von Anweisungen eines Partners zu finden, sie hüpfen auf nur einem Bein herum oder öffnen und schließen Knöpfe mit nur einer Hand. Ein Junge sagt während der Durchführung einer Aufgabe zufällig den Satz: „Es ist leichter zu sterben.“ In der Tat ist es nicht einfach, mit einer Behinderung zu leben. Im Laufe des Spiels fangen die Kinder langsam an zu verstehen, mit welchen Schwierigkeiten körperbehinderte Menschen tagtäglich zu kämpfen haben.

Die zweite Schulstunde beginnt mit dem Spiel „Finde einen Job“. Dabei werden die Kinder in drei Mannschaften aufgeteilt und bekommen die Aufgabe, eine Liste von passenden Berufen für körperbehinderte Menschen zu erstellen. Der ersten Mannschaft fallen für einen Menschen,

der weder sprechen noch hören kann, der Beruf eines Rennfahrers, eines Akrobaten oder eines Piloten ein. Die zweite Mannschaft soll Berufe für einen Menschen ohne Arme finden. Hier nennen die Kinder solche Berufe wie Lehrer, Manager oder Eiskunstläufer. Die dritte Mannschaft grübelt über mögliche Berufe für einen sehbehinderten Menschen. Sie zählen die Berufe Masseur, Psychologe und Maschinist auf. Die Berufe werden später in einer Diskussion ergänzt, den Kindern wird erklärt, wo sie mit ihren Annahmen richtig und wo falsch lagen.

Als nächstes zeigt Alexander sein „sprechendes“ Telefon und erklärt, dass Sehbehinderte durchaus lesen, schreiben sowie Telefone und Computer bedienen können. Mit großem Interesse schauen sich die Zweitklässler die Brailleschrift-Fibel und eine spezielle Landkarte an. Als sie am Anfang des Unterrichts gefragt wurden, ob körperbehinderte Menschen arbeiten können, gingen die Meinungen weit auseinander. Jetzt wissen die Kinder allerdings, dass auch behinderte Menschen eine für sie geeignete Arbeit finden und ein erfülltes, interessantes Leben führen können.

Zur dritten Stunde erscheinen die Kinder bereits sehr gut vorbereitet. Sie erzählen, mit welchen Gefahren sich körperbehinderte Menschen auf der Straße auseinandersetzen müssen und wie sie diesen am besten begegnen können. Dann wird das Spiel „Wir sind unterschiedlich“ gespielt. Hierbei gehen die Kinder in Paaren nach vorne und suchen bei ihren Partnern nach etwas, was an ihnen anders ist: „Dmitrij, du hast Sommersprossen, und ich nicht. Kyrill, du bist schnell, und ich langsam.“ So werden die Kinder an einen wichtigen Gedanken herangeführt: Alle Menschen sind unterschiedlich, können aber dennoch auf derselben Ebene miteinander kommunizieren.

Als Nächstes schauen sich die Kinder einen Film an. Dieser handelt von einem Koreaner, der zu einem erfolgreichen Musiker wurde, obwohl er keine Hände hatte, und von einem bekannten russischen Professor, der weder sehen noch hören kann und zudem im Rollstuhl sitzt. Nach dem Unterricht erzählen die Kinder, dass sie während der drei Stunden gelernt haben, „freundlich, höflich und hilfsbereit“ gegenüber Menschen mit körperlicher Behinderung zu sein. Sie hätten verstanden, dass „man mit jedem Menschen befreundet sein kann“.

 

Toleranz bis in die entferntesten Regionen

Julia Kuleschowa und Alexander Sajkin führen den „Unterricht in Güte“ erst seit kurzer Zeit durch. Da Kuleschowa Psychologie studiert hat, gefällt ihr das Engagement an den Schulen besonders gut. Sajkin hat 15 Jahre lang als Geschichtslehrer gearbeitet und setzt bei dem Projekt seine Arbeit mit Kindern weiter fort. „Dieser Unterricht ist nicht nur für uns wichtig, sondern auch für die Schulen. Den Kindern wird gezeigt, dass sich körperbehinderte Menschen nicht von den anderen unterscheiden. Auch mit ihnen kann man sich unterhalten und befreundet sein“, betont Alexander Sajkin. 

Die Organisation Perspektiwa kämpft bereits seit über 15 Jahren gegen gängige Klischees und widmet sich der Integration körperlich behinderter Menschen in alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Der „Unterricht

in Güte“ wird schon seit zehn Jahren durchgeführt. In Moskau nehmen zwanzig Schulen an dem Programm teil. Auch außerhalb Moskaus haben Organisationen die Initiative aufgegriffen, etwa in Burjatien, den Gebieten Woronjesch und Kaliningrad, der Region Chabarowsk und den Republiken Tatarstan, Tschetschenien und Dagestan.

Die Teilnahme an dem Programm ist für die Schulen kostenlos. Die Kursleiter werden von der Organisation Perspektiwa bezahlt. Das staatliche Hauptstadtgymnasium Nr. 3 arbeitet schon seit über fünf Jahren mit Perspektiwa zusammen. „Wir versuchen, die Kinder von Hass und Bosheit zu befreien. Ob das klappt, wissen wir nicht. Ich hoffe, dass wir wenigstens die Saat dafür säen können“, sagt die Direktorin des Gymnasiums, Schanna Schinkarkina. Und die Sozialpädagogin Irina Sacharowa fügt hinzu, dass sich die Kinder nach dem „Unterricht in Güte“ tatsächlich veränderten. Sie würden besser, toleranter und reifer und hätten gelernt, Mitgefühl mit anderen zu haben.

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