Waisenhäuser in Russland: Kein Ausweg aus dem Teufelskreis?

In Russland gibt es etwa 560 000 solcher Sozialwaisen, deren Eltern zwar noch leben, die sich aber nicht um ihre Kinder kümmern wollen oder können. Foto: ITAR-TASS

In Russland gibt es etwa 560 000 solcher Sozialwaisen, deren Eltern zwar noch leben, die sich aber nicht um ihre Kinder kümmern wollen oder können. Foto: ITAR-TASS

Manche russische Waisenkinder schaffen es, ihr altes Leben hinter sich zu lassen und Fuß in der Mitte der Gesellschaft zu fassen. Der russische Staat investiert viel Geld, um Waisenkindern einen fairen Start zu ermöglichen. Ewgenij und Aleksandr berichten über ihr Leben nach dem Waisenhaus.

Ewgenijs Eltern sind nicht gestorben. Ewgenijs Vater hatte seine Familie schon früh verlassen, seine Mutter war Alkoholikerin. Als Ewgenij acht Jahre alt war, verlor er durch den Tod der Großmutter seine letzte Bezugsperson. Ein ganzes Jahr lang kämpfte sich der Achtjährige alleine durchs Leben, dann zog er in ein Waisenhaus – freiwillig. Der heute Achtundzwanzigjährige lebt inzwischen in einer Wohnung außerhalb von Moskau, die ihm seine Großmutter hinterlassen hatte, und verdient als Systemadministrator bei einem Bekleidungsunternehmen gutes Geld, obwohl er keine höhere Schulbildung hat. An das ehemalige Waisenkind erinnert heute nichts mehr. Ewgenijs zwanzig Jahre alte Freundin macht eine Ausbildung bei der Polizei. Sie kommt nicht aus einem Waisenhaus, wie er stolz erzählt, denn oft bleiben die ehemaligen Waisenkinder unter sich. Dennoch hat Ewgenij seine Entscheidung für das Waisenhaus nie bereut: „Das Waisenhaus hat mich zu dem gemacht, was ich heute bin“, sagt er.

 

Das Waisenhaus als Familienersatz

In Russland gibt es etwa 560 000 solcher Sozialwaisen, wie Kinder genannt werden, deren Eltern zwar noch leben, die sich aber nicht um ihre

Kinder kümmern wollen oder können. Sie stellen laut Ministerium für Bildung und Wissenschaft 85 Prozent aller russischen Waisenkinder. Alkoholismus, Überforderung, eine Behinderung des Kindes oder finanzielle Probleme sind die häufigsten Ursachen dafür, dass die Eltern ihre Kinder ablehnen und vernachlässigen, bis ihnen das Sorgerecht entzogen wird. Das Waisenhaus ist dann der einzige Ausweg für die Kinder.

Russische Waisenhäuser sind geschlossene Erziehungseinrichtungen. Sie gab es schon zu  Sowjetzeiten, als Waisenkinder nach dem Krieg und den Repressionen des Sowjetregimes zu einer Massenerscheinung wurden. Zurzeit gibt es in Russland etwa 2 000 Waisenhäuser, in denen die Kinder bis zu ihrem 16. oder 17. Lebensjahr wohnen können. Dann müssen sie das Waisenhaus verlassen. Jedes Jahr sind das etwa 15 000 Jugendliche. Selten werden Waisenkinder in Russland adoptiert. Im Jahr 2012 fanden nur 6 500 Kinder auf diesem Weg ein neues zu Hause und nur 29 davon waren behinderte Kinder. Manche Kinder leben in Pflegefamilien, werden von diesen aber häufig wieder zurück ins Waisenhaus gebracht. Dieses Schicksal traf 2012 insgesamt 4 500 Kinder.

Sobald die Waisenkinder das 18. Lebensjahr erreicht haben, zahlt ihnen der Staat eine monatliche Beihilfe in der Höhe von etwa 530 Euro aus und stellt ihnen eine Wohnung. Scheinbar gute Startbedingungen, doch tatsächlich sind die ehemaligen Waisenhausbewohner nur unzureichend auf ein Leben außerhalb des gewohnt geschützten Rahmens vorbereitet, erklärt Aleksandr Gesalow. Er wuchs selbst in einem Waisenhaus auf.

Heute ist er Experte auf diesem Gebiet und untersucht den Werdegang ehemaliger Waisenkinder in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion.

Die Ergebnisse sind oft erschütternd, nicht jeder hat so viel Glück wie Ewgenij oder Aleksander Gesalow. Die anderen Waisenhauskinder bleiben oft genug die einzige Familie, die die ehemaligen Waisenkinder kennen lernen. Eine kriminelle Laufbahn ist keine Seltenheit. Viele sind drogenabhängig, erzählt Gesalow. Manche sterben deshalb schon in jungen Jahren.

 

Die finanziellen Rahmenbedingungen sind gut – die Qualifikation der Erzieher nicht

Das Personal der Waisenhäuser ist bemüht, den Kindern Chancen und Perspektiven zu ermöglichen. Sie besuchen spezielle berufsbildende Schulen, doch ein höherer Abschluss an einer allgemeinbildenden Schule bleibt ihnen meist, und damit auch der Zugang zu den Hochschulen, verwehrt. In Ewgenijs Waisenhaus förderten die Erzieher sein Interesse am Lesen und an Computern. Er hat heute noch Kontakt zu ehemaligen Erziehern. Ewgenij sieht eines der  Hauptprobleme für die mangelhafte Ausbildung der Waisenkinder in der niedrigen Qualifikationen der Erzieher. Sie stammen häufig selbst aus Waisenhäusern, 90 Prozent von ihnen sind Frauen. Das „wahre Leben“ haben sie selbst nie kennen gelernt und können daher kein positives Rollenvorbild sein.

Dabei ist die finanzielle Ausstattung russischer Waisenhäuser grundsätzlich als gut zu bewerten. Im Jahr 2012 wurden für 42 Heime in und um Moskau insgesamt etwa 63,7 Millionen Euro aufgewendet, das macht pro Waisenkind bis 64 000 Euro. Dazu kommen noch private Spendengelder. Für die Waisenhäuser ist es daher lukrativer, die Kinder so lange wie möglich bei sich zu behalten.

Aleksander Gesalow hat festgestellt, dass Kinder, die im Waisenhaus aufgewachsen sind, etwa 20 bis 25 weitere Jahre brauchen, bis sie in der Gesellschaft angekommen sind. Unterstützung bieten dabei gemeinnützige Organisationen wie „Opora“ (zu Deutsch: Rückhalt), die auch Ewgenij bei den ersten Schritten in ein Leben außerhalb des Waisenhauses unterstützt haben. Gesalow findet solche Organisationen gut, weist aber darauf hin, dass sie auch über die systemischen Mängel der Waisenhäuser hinwegtäuschten. Er fordert professionelle Pädagogen und erfahrene, gut ausgebildete Lehrer.

Die russische Regierung diskutiert zwar eine Reform des Waisenhaussystems, auch eine Schließung der Waisenhäuser in ihrer jetzigen Form wird in Betracht gezogen. Doch noch fehlen Alternativen und es gibt zu viele offene Fragen. Aus welchen Professionen sollen die Fachkräfte kommen, was brauchen die Kinder, um auf das Leben nach dem Waisenhaus vorbereitet zu werden? Wie kann der Teufelskreis durchbrochen werden, dass häufig die Kinder ins Waisenhaus kommen, deren Eltern bereits dort aufgewachsen sind? 

Ewgenij ist jedenfalls schon längst in seinem neuen Leben angekommen. Vielleicht, weil er schon etwas älter war, als er ins Waisenhaus kam. „Ich

hatte schon gelernt, auf eigenen Beinen zu stehen, eigene Entscheidungen zu treffen“, sagt er. „Ich wusste bereits, dass man viel erreichen kann, wenn man es wirklich will“. Das habe ihm geholfen, seinen Weg zu finden. Die Freundschaften, die Ewgenij heute pflegt, sind nicht im Waisenhaus entstanden und führen ihn vielleicht noch in eine ganz neue Richtung: „Ich habe Bekannte in Thailand, die ich sogar einmal mit einem ehemaligen Erzieher besucht habe“, erzählt er. Seitdem hat Ewgenij einen Traum: „Eines Tages möchte ich nach Thailand ziehen und dort leben.“

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