Karriere in Russland: Ohne Beziehungen geht nichts

Persönliche Beziehungen scheinen in Russland wichtiger als Prädikatsexamen. Foto: Shutterstock

Persönliche Beziehungen scheinen in Russland wichtiger als Prädikatsexamen. Foto: Shutterstock

Eine hervorragende berufliche Qualifikation ist in Russland noch lange kein Garant für beruflichen Erfolg. Wer die Karriereleiter erklimmen möchte, braucht vor allem gute Kontakte.

Auch in Russland ist eine gute berufliche Qualifikation die Basis für Erfolg. Laut einer Untersuchung durch Experten der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Verwaltungsdienst haben in der obersten Einkommensgruppe 25 Prozent der Befragten einen Hochschulabschluss, nur knapp zehn Prozent sind ungelernte Arbeitskräfte.

 

Erfolgsfaktor persönliche Beziehungen

Immerhin 46,8 Prozent der Befragten glauben jedoch, dass der Berufs- oder Hochschulabschluss und die damit erworbenen Kompetenzen nur eine untergeordnete Rolle beim beruflichen Aufstieg spielen, das habe für manche lediglich Symbolcharakter. Davon sind vor allem die über 40-Jährigen überzeugt. Nur 15 Prozent halten ihre berufliche Qualifikation für ausschlaggebend bei der Besetzung einer Stelle, die anderen vertrauen auf persönliche Kontakte. Dahingegen schätzen die 18- bis 29-Jährigen die Bedeutung ihrer Qualifikation sehr viel höher ein. Ein Studienabschluss mit Auszeichnung, ein sogenanntes Rotes Diplom, sei ein optimaler Startpunkt für die Karriere. In dieser Altersgruppe glauben 28,6 Prozent der Befragten, auf der Karriereleiter auch ohne das berühmtberüchtigte „Vitamin B" voranzukommen.

Artjom Werbizkij arbeitet als Assistent des Direktors für Außenwirtschaftsbeziehungen der Firma OOO GK RWN, die in der Baubranche angesiedelt ist. Werbizkij kann bestätigen, dass zumindest in dieser Branche nichts ohne Networking geht: „Fachwissen, Fleiß und Leistungsbereitschaft spielen nach meiner Erfahrung eine untergeordnete

Rolle", meint er. Er kenne viele, die nur wegen ihrer sozialen Kontakte nach oben gekommen seien. Werbizkij bedauert das, denn ein Hochschulabschluss biete seiner Meinung nach eine bessere Voraussetzung für den beruflichen Erfolg. Er habe die Erfahrung gemacht, dass so mancher Unternehmensvertreter, dem diese fachliche Basis fehlt, nicht einmal einfachste Verhandlungsgespräche führen könne. „Bei der Stellenbesetzung in der Baubranche gilt der Grundsatz ‚Eine Hand wäscht die andere'. Beinahe alle Stellen werden auf der Grundlage persönlicher Beziehungen besetzt", fasst Werbizkij seine Erfahrungen zusammen. „Ich persönlich weiß nicht, wie man dagegen ankämpfen könnte."

Michail Tschernysch, stellvertretender Leiter des Bereichs Soziale Mobilität des Instituts für Soziologie der Russischen Akademie der Wissenschaften, hält den Faktor „persönliche Beziehungen" für ein altes russisches Übel, unabhängig von der jeweils geltenden Gesellschaftsordnung. Vitamin B habe bereits in der vorrevolutionären Ständegesellschaft eine wichtige Rolle gespielt, ebenso im Sozialismus und in der heutigen Marktwirtschaft. In Zeiten der Wirtschaftskrise und instabiler Märkte seien persönlichen Beziehungen sogar noch viel wichtiger. Denn es werde immer weniger Arbeitsplätze geben, insbesondere gut bezahlte. Die vielen Bewerber seien bereit, mit allen Mitteln darum zu kämpfen.

 

Die Russen und der Kreis des Vertrauens

Wladimir Magun, Laborleiter an der Nationalen Forschungsuniversität der Wirtschaftshochschule und des Instituts für Soziologie der Russischen Akademie der Wissenschaften, hat eine Erklärung für die große Bedeutung persönlicher Beziehungen im Leben seiner Landsleute: „Wir Russen vertrauen uns gegenseitig nur wenig." Die Russen bauen ihr Leben auf

einem relativ kleinen Personenkreis auf, der aus der engeren Familie, Verwandten und guten Freunden besteht. Freunde von Freunden bilden dabei schon die äußerste Grenze. Nur innerhalb dieser engen persönlichen Beziehungen vertrauen die Russen auf die Richtigkeit von Informationen. Entscheidungen diskutieren sie nur in diesem Kreis. Vor allem, wenn Ressourcen knapp sind und der Zugang dazu von existenzieller Bedeutung ist, pflegen die Russen diese Beziehungen umso mehr.

Dass persönliche Beziehungen auch plötzlich an Bedeutung verlieren können, konnte zum Beispiel im Bereich des Warenhandels nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion beobachtet werden. „Als es zu Sowjetzeiten noch ein begrenztes Warenangebot gab, waren Beziehungen mehr wert als Geld", erzählt Magun. „Beziehungen bedeuteten Fleisch, Fisch und Schuhe." Nach der Einführung der Marktwirtschaft gab es dann ein ausreichendes und für jedermann zugängliches Angebot. Das Kapital der persönlichen Beziehungen war in diesem Bereich nun wertlos.

 

Vitamin B spielt nicht nur in Russland eine große Rolle

In der Arbeitswelt geht es aber noch immer nicht ohne ein gutes Netzwerk, und das nicht nur in Russland. Persönliche Beziehungen spielen in diesem Bereich überall auf der Welt und in jeder Gesellschaft eine Rolle. Mal sind sie mehr, mal weniger wichtig, aber nie bedeutungslos. Das können auch ausländische Fachkräfte bestätigen, von denen eine große Anzahl in Russland lebt und arbeitet.

Die Ursache für die unterschiedliche Bedeutung von Vitamin B in der Arbeitswelt liegt in den unterschiedlichen kulturell-historischen Wurzeln begründet. In der vor Kurzem veröffentlichen Studie „Kultur und Institutionen", die unter Leitung des US-amerikanischen National Bureau of

Economic Research (NBER) erstellt wurde, haben Wissenschaftler festgestellt, dass vor allem die Bewohner der USA, Kanadas und Indiens an beruflichen Erfolg allein auf der Grundlage ihrer Qualifikation glauben.

Sarah Niara aus den Vereinigten Staaten ist verantwortliche Redakteurin für internationale Nachrichten einer großen russischen Medienholding. Sie kennt die Unterschiede zwischen der Firmenethik und den internationalen Beziehungen in Russland und den USA und die kulturellen Besonderheiten. Sie bestätigt, dass in den USA Professionalität zwar von großer Bedeutung sei, aber es sei auch durchaus üblich, dass dort Arbeitgeber Erkundigungen einholten und ihre Personalpolitik auf der Grundlage von Empfehlungen gestalteten. Die wichtigste Voraussetzung für beruflichen Erfolg in Russland ist für Sarah Niara ohnehin Gelassenheit.

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