Russische Touristen lassen sich in Deutschland gern medizinisch behandeln. Foto: Alamy/Legion Media
Immer mehr Russen fahren zur medizinischen Behandlung nach Deutschland. Ein regelrechter Medizintourismus hat sich entwickelt. „Vor dem Hintergrund des Modernisierungsrückstands, nicht ausreichender Investitionen in den Medizinbereich und fehlender erstklassiger Dienstleistungsangebote hat sich der Medizintourismus in Russland in den vergangenen Jahren in relativ hohem Tempo entwickelt", sagt Maxim Kljagin, Analytiker der Investmentgesellschaft Finam Management. „Deutschland gehört dank seiner hoch entwickelten Medizinindustrie zu den Spitzenreitern unter den Ländern, die von den Russen bevorzugt werden. Nach Einschätzung einiger Experten entfallen auf Deutschland bis zu 30 Prozent des Gesamtumfangs entsprechender Reisen", führt er weiter aus. Beim Kampf um russische Medizintouristen könne international nur noch Israel mit Deutschland konkurrieren.
Ein Unternehmen, das medizinische Reisen nach Deutschland organisiert, ist zum Beispiel Medcologne Ltd. Dessen Geschäftsführer Mikhail Khaitine kennt die Zahlen: „Laut offizieller deutscher Statistik ist die Zahl der Patienten aus Russland in den letzten acht Jahren um das Siebenfache gestiegen. Bei den Russen am beliebtesten sind das Bundesland Nordrhein-Westfalen mit den Städten Köln, Bonn, Düsseldorf, Bochum, und Süddeutschland mit München, Regensburg und Freiburg." Am größten sei die Nachfrage bei der Orthopädie, der inneren Medizin, der Allgemein- und Viszeralchirurgie, der Unfallchirurgie und orthopädischen Chirurgie, der Kardiologie sowie der Onkologie. Maxim Kljagin fügt noch die Neurochirurgie und die Plastische Chirurgie hinzu. Die Kardiologie sei inzwischen weniger nachgefragt als früher. „Wir sehen das in Verbindung mit der erfolgreichen Durchführung von Kooperationsprogrammen zur Behandlung herzkranker Patienten in Russland", erklärt Khaitine.
Optimal auf die Bedürfnisse der russischen Patienten eingestellt
Der deutsche Tourismusverband unterstützt den Medizintourismus und lädt regelmäßig zu Werbereisen nach Russland ein. Mit Unterstützung der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen wurde eine Initiative zur besseren Positionierung der Region Köln-Bonn-Düsseldorf auf dem Markt für Medizintourismus in Russland und anderen Ländern gegründet.
Die freie Wirtschaft zieht nach. Unter anderem wurde in Deutschland das kostenlose Informationsportal „Zentra" geschaffen, das russischen Patienten hilft, selbstständig Kontaktinformationen von allen Kliniken und
medizinischen Zentren in Deutschland zu finden. Das Portal ermöglicht eine genaue Suche nach der richtigen Klinik, beispielsweise durch die Festlegung von Kriterien wie der Spezialisierung der Klinik, der Stadt, der Diagnose oder der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheit.
Das System bietet den Patienten einen großen Vorteil: Sie sparen Kosten für einen Vermittler ein, die sie dann für ihre medizinische Behandlung aufwenden können, wie Boris Levitskii, Geschäftsführer von V-Block Medical Service und Gründer des Projekts, erklärt. Die großen deutschen Klinken verfügten schon lange über einen eigenen medizinischen Service, der sich nicht nur um die Akquise der russischen Patientenkundschaft kümmert, sondern darüber hinaus Betreuungsleistungen anbietet, weiß er zu berichten. Mikhail Khaitine kann das bestätigen: „Viele Patienten, die zu uns kommen, sind zum ersten Mal im Ausland, sprechen die Sprache nicht und brauchen bei praktisch allem Hilfe, deshalb müssen wir uns häufig auch mit Dingen beschäftigen, die nichts mit der Medizin zu tun haben: telefonischen Kontakt zu den Verwandten in der Heimat herstellen, die Organisation eines Kulturprogramms für die Patienten oder ihre Begleitpersonen, Shopping, Kinderbetreuung und andere alltägliche, aber sehr wichtige Dinge."
Zur Behandlung nach Deutschland fahren die unterschiedlichsten Touristen. „Anfangs waren es die Oligarchen und ihre nächste Umgebung, jetzt sind Vertreter von mittelständischen Unternehmen und Mitarbeiter
großer Firmen darunter, die eine Betriebsversicherung haben", erzählt Levitskii. Mikhail Khaitine hat beobachtet, dass die Patienten nicht mehr nur aus den russischen Metropolen, sondern zunehmend auch aus den Regionen kommen. Die Zahl der Patienten wächst mit jedem Jahr. Die Russen schätzen deutsche Ärzte. Viele Patienten kommen, um Vorsorgeuntersuchungen durchführen zu lassen. Besonders im Bereich der Präventivmedizin genieße Deutschland einen hervorragenden Ruf, sagt Khaitine. Andere Patienten könnten in der russischen Heimat nicht angemessen behandelt werden, in Deutschland hingegen fänden die neuesten und fortschrittlichsten Methoden der Diagnostik und Therapie bald, nachdem sie auf dem Weltmarkt vorgestellt würden, Eingang in die medizinische Praxis.
Innerhalb von zwei Tagen sei eine Diagnosestellung mit einem Vorschlag zur Heilbehandlung möglich, erklärt der Experte. Doch die Qualität hat auch ihren Preis. Ein Beispiel: Die Firma Bavaria Med Service bietet einen zweitägigen Aufenthalt zur Diagnostik für 2 500 Euro an, ein dreitägiger Aufenthalt kostet bereits ab 4 200 Euro aufwärts.
Beliebtes Reiseland Deutschland
Doch man muss nicht krank sein oder sich um seine Gesundheit sorgen, um nach Deutschland zu reisen. Laut Statistik der Staatlichen Tourismusagentur Russlands war Deutschland im ersten Quartal 2014 das populärste europäische Land für Touristen aus Russland. Zum Vergleich: Ägypten besuchten im Laufe der ersten drei Monate 542 000 Touristen, an zweiter Stelle lag Thailand mit 409 000, gefolgt von den Vereinigten Arabischen Emiraten (216 000) und Deutschland (202 000). Den fünften und letzten Platz unter den in Russland beliebtesten Reisezielen nimmt China ein (165 000). Noch 2013 war das bei Russen beliebteste europäische Land Finnland, Deutschland war nicht einmal unter den Top-5.
Umgekehrt wird Russland ein immer beliebteres Reiseziel für Touristen aus Deutschland. Nach Angaben des Verbands der Russischen
Tourismusindustrie besuchten in den ersten neun Monaten des Jahres 2013 insgesamt ungefähr 580 000 deutsche Staatsbürger Russland. Wie der Generalsekretär der Welttourismusorganisation UNWTO, Taleb Rifai, bei einem Treffen der Tourismus-Minister am 16. Juni in Sotschi mitteilte, werde die Zahl der ausländischen Touristen, die eine Reise nach Russland planen, in diesem Jahr wahrscheinlich um vier bis fünf Prozent steigen. Russland befinde sich zum heutigen Tag unter den zwölf meistbesuchten Ländern der Welt, so Rifai. In den vergangenen zehn Jahren ist der Touristenstrom nach Russland auf das Dreifache angewachsen. Im Jahr 2015 wird nach einer Prognose von Rostourism bei der Anzahl der touristischen Besuche Russlands China den ersten Platz einnehmen, auf dem zweiten Platz könnten die Touristen aus Deutschland landen.
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