Foto: ITAR-TASS
Am vergangenen Dienstag entgleisten zur morgendlichen Hauptverkehrszeit auf der Arbatsko-Pokrowskaja-Linie zwischen den Stationen Slawjanski Bulwar und Park Pobedy im Moskauer Westen drei Waggons eines Zuges der Metro. Nach letzten offiziellen Informationen stieg die Zahl der Todesopfer auf 22. Wie die russische Nachrichtenagentur Interfax meldete, wurden am Mittwochmorgen noch 150 Verletzte in Krankenhäusern der Stadt behandelt. 56 von ihnen befinden sich in einem sehr kritischen oder kritischen Zustand.
Am Unfallort nahmen Ermittler ihre Arbeit auf. Nach Verlautbarungen des Moskauer Bürgermeisteramts seien keine Verstöße gegen die technischen
Sicherheitsvorschriften vor der Entgleisung des Zugs nachweisbar. „Es steht fest, dass der verunglückte Zug und die Gleise in dem betreffenden Streckenabschnitt gemäß der Betriebsstandards der Metro überprüft wurden“, hieß es in einer Erklärung des Departements für Verkehr und Entwicklung der Straßen- und Verkehrsinfrastruktur der Stadt Moskau an Interfax. Beanstandungen seien dabei nicht festgestellt worden.
Die ursprüngliche Annahme des Zivilschutzministeriums, nach der eine sprunghafte Spannungsveränderung die folgenschwere Schnellbremsung des Zuges verursacht habe, hat sich ebenfalls nicht bestätigt. Stattdessen wird nun untersucht, ob ein defektes Weichenstück die Unfallursache gewesen ist. „Wir prüfen auch einen möglichen Defekt des Waggons selbst und alle anderen Erklärungsansätze“, sagte Wladimir Markin, ein Vertreter der nationalen Ermittlungsbehörde. „Mehrere Ursachen kommen in Frage, etwa eine Blockierung der Weiche oder auch eine Absenkung des Gleiskörpers. Auf dem Parallelabschnitt der Strecke werden nämlich derzeit Gleisbauarbeiten durchgeführt.“
Die Suche nach Schuldigen – die ersten Festnahmen
Die Moskauer Polizei hat ein Ermittlungsverfahren eingeleitet und erste Festnahmen in Zusammenhang mit dem Unglück vorgenommen. Bislang gelten zwei Personen als verdächtig, die unmittelbar mit der Ausführung der Gleisarbeiten betraut waren. Dabei handelt es sich um Waleri Baschkatow, einen Vorarbeiter des Gleisdienstes der Moskauer Metro und dessen Assistenten Juri Gordow. Die beiden werden zurzeit vernommen.
Nach Angaben der Ermittler werden seit Ende Mai 2014 auf dem Streckenabschnitt zwischen Park Pobedy und Slawjanski Boulevard Gleis- und Weichenarbeiten vorgenommen, um die Arbatsko-Pokrowskaja-Linie mit der im Bau befindlichen benachbarten Nebenlinie Kalininskaja zu verbinden. „Baschkatow und Gordow waren unmittelbar in die Durchführung der Arbeiten an dem Weichensystem einbezogen, ihnen oblag auch die Kontrolle der Ausführung“, heißt es in einer Erklärung. „Die Ergebnisse der bisherigen Ermittlungen legen nahe, dass diese Arbeiten unsachgemäß vorgenommen wurden. Der Weichenmechanismus war mit einem Drei-Millimeter-Draht fixiert, der dem Druck nicht standhielt“, wird weiter ausgeführt.
Die Behörden versprechen eine vollständige Aufklärung des tragischen Unglücks: „ Die Ermittlungsbehörde wird ausnahmslos alle an dieser Tragödie Beteiligten feststellen und strafrechtlich zur Verantwortung ziehen, von den Arbeitern bis zu den Angehörigen der Leitungsebene, die die Einhaltung der Sicherheitsnormen der Moskauer Metro in vollem Umfang zu kontrollieren und sicherzustellen haben.“
Ein Vertreter der unabhängigen Gewerkschaft der Moskauer Metro-Arbeiter, der anonym bleiben möchte, äußerte in einem Interview mit dem russischsprachigen Dienst der BBC die Vermutung, dass die Fahrdienstleiterin die Tragödie verursacht habe, die vom Stellwerk aus die Position der Weiche nicht kontrollieren konnte. „Der Zug fuhr vor dem Unglück wahrscheinlich auf ein Gleis der Kalininskaja-Linie, danach konnten die Weichen nicht umgestellt werden, zumindest nicht vollständig. Genau kann ich das nicht sagen“, so der Gewerkschafter. Die Verantwortung für das Unglück liege seiner Meinung nach jedoch nicht allein bei der „Weichenwärterin“, sondern auch bei der Leitung der Moskauer Metrobetriebe.
Fahrgäste berichteten vor dem Unglück über Auffälligkeiten
Während die offiziellen Ermittlungen noch laufen, versucht die russische Bevölkerung, eigene Erklärungen für die Tragödie zu finden. Bei den Moskauer Behörden seien bereits früher Meldungen von Bürgern über Auffälligkeiten auf dem Streckenabschnitt zwischen den Stationen Park Pobedy und Slawjanski Boulevard eingegangen.
Der Bürgerrechtsaktivist Sergej Molostow schreibt auf seiner Facebook Seite, er habe die Moskauer Metrobetriebe in einem offiziellen Schreiben auf „Vibrationen der Waggons“ hingewiesen, die er auf diesem und einem weiteren Streckenabschnitt beobachtet hätte. Die Leitung der Moskauer U-Bahn habe darauf geantwortet, der Zustand der Gleise entspräche den technischen Normen und Toleranzbereichen, Unregelmäßigkeiten bei der Wartung der Schienenstöße seien nicht erkennbar, die Größe der Stoßfugen erfülle die technischen Anforderungen. Der Schriftverkehr ist jedoch nicht belegt.
Ein Blogger präsentierte auf LiveJournal eine detaillierte Fotoserie über die Bauarbeiten an der Arbatsko-Pokrowskaja-Linie und versicherte, dass die Metro-Fahrgäste schon einige Wochen lang unangenehme Vibrationen des Waggons zwischen den Stationen Park Pobedy und Slawjanski Boulevard wahrgenommen hätten. „Aus irgendwelchen Gründen funktionierte die Weichenanlage nicht wie vorgesehen, infolgedessen sprang das zweite Drehgestell des Zuges von den Gleisen“, vermutet er. „Die zweite Hälfte des ersten Waggons prallt gegen die Absperrung zwischen den Tunneln
und verkeilt sich bei einer Geschwindigkeit von 40 bis 60 Stundenkilometern im Tunnel, von der eigenen Masse und der Wucht der nachfolgenden Waggons stark deformiert. Der Zug kommt abrupt zum Stehen“, schildert er seine Version der Ereignisse. „Die Passagiere suchten einen Ausgang und sahen plötzlich erschrockene Bauarbeiter, die hinter der eingerissenen Mauer des Tunnels auf der Kalininsko-Solnzewskaja-Linie arbeiteten“, erzählt er weiter. Über diese Baustelle gelangten viele der Passagiere schließlich ins Freie, hätten Augenzeugen berichtet.
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