Einmal Krieg und zurück: Selbstversuch eines Journalisten

Einer der Freiwilligen will kämpfen, weil beide seine Großväter im Zweiten Weltkrieg in der Ukraine ums Leben gekommen seien. Ein Verwandter sei zudem Anfang Mai infolge des Brandanschlags auf das Gewerkschaftshaus in Odessa bei lebendigem Leibe verbrannt, schreibt Sokolow. Foto: AP

Einer der Freiwilligen will kämpfen, weil beide seine Großväter im Zweiten Weltkrieg in der Ukraine ums Leben gekommen seien. Ein Verwandter sei zudem Anfang Mai infolge des Brandanschlags auf das Gewerkschaftshaus in Odessa bei lebendigem Leibe verbrannt, schreibt Sokolow. Foto: AP

Warum ziehen junge Russen in die umkämpften Gebiete in den Südosten der Ukraine? Der Journalist Alexander Sokolow hat sich mit einer Gruppe freiwilliger Kämpfer auf den Weg in den Donbass gemacht, um das herauszufinden.

Tausende Russen kämpfen freiwillig an der Seite der Aufständischen im Südosten der Ukraine, sagt Alexander Sachartschenko, der als Premierminister der selbsternannten Volksrepublik Donezk auftritt. Der Korrespondent der russischen Zeitung „RBK“ Alexander Sokolow war einer von ihnen. Der Journalist wollte herausfinden, wie und warum seine Landsleute in den Kampf ziehen, und folgte ihnen.

 

Der Weg an die Front führt über soziale Netzwerke

Es sei sehr einfach, Kämpfer zu werden, schreibt Sokolow in seinem Erfahrungsbericht. Kontakte ließen sich über die Plattform Vkontakte herstellen, Russlands Pendant zu Facebook. Dort gebe es zum Beispiel die Gruppe „Volksbürgerwehr Donbass“, die den Weg zur Kontaktaufnahme mit Moskauer Verbindungsleuten weist, welche Hilfestellungen auf dem Weg zur Front bieten. Die Struktur der Volksbürgerwehr des Donbass sei Pawel Gubarew, dem Leiter der Abteilung für Mobilisierung beim Verteidigungsministerium der selbsternannten Volkrepublik Donezk, unterstellt. Bei der Reise in den Südosten der Ukraine helfe die Gruppe „Swodki ot opoltschenija Noworossii“ („Berichte von der Bürgerwehr Neurusslands“). Das „Ticket an die Front“ könne in Rostow-am-Don gelöst werden.  

Dort traf der Journalist auf 15 Freiwillige, viele von ihnen hätten bereits Tarnuniformen und Rücksäcke getragen. Wie er schreibt, handelte es sich bei den Freiwilligen mehrheitlich um junge Männer im Alter zwischen 20 und 35 Jahren oder ehemalige Soldaten. Die Fahrzeuge, mit denen sie in die umkämpften Gebiete gebracht werden sollten, hatten ukrainische

Nummernschilder. Ihre Fahrer und die sie begleitendenden Kämpfer der Bürgerwehr seien aus dem Donbass gekommen. Etwa einmal pro Woche gingen sie auf Tour, wie sie dem Journalisten erzählten. „Die Freiwilligen in unserem Auto nannten sich Gek und Rachmet, sie waren noch keine 25 Jahre alt“, schreibt Sokolow. Der erste sei aus Sankt Petersburg gekommen, ein Leutnant der Küstentruppe der russischen Seekriegsflotte aus einer Familie von Armeeangehörigen. Er wolle kämpfen, weil beide Großväter, denen man die Auszeichnung „Helden der Sowjetunion“ verliehen hatte, im Zweiten Weltkrieg in der Ukraine ums Leben gekommen seien. Ein Verwandter sei zudem Anfang Mai infolge des Brandanschlags auf das Gewerkschaftshaus in Odessa bei lebendigem Leibe verbrannt. Der junge Soldat fühlte sich seiner Familie gegenüber in der Pflicht, an die Front zu gehen, sagt Sokolow. Die Motivation von Rachmet, einem noch jungen, ehemaligen Soldaten der russischen Luftwaffe mit blauem Barett, ist nicht weniger patriotisch. Er erinnerte Sokolow an einen Bericht russischer Staatsmedien über das Schicksal von Veteranen in Mariupol, denen man ihre Orden und Medaillen abgerissen habe.

Das Überschreiten der Grenze sei unproblematisch gewesen. Die Grenzwächter nahmen Gepäck und Ausweise der Passagiere nur kurz in Augenschein und ließen danach das Fahrzeug passieren, schreibt Sokolow. Nur ein junger Grenzbeamter habe zynisch bemerkt: „Na, dann fahrt mal schön, ihr Zweihunderter.“ Ein „Zweihunderter“ bezeichnet im Militärjargon die sogenannte „Fracht 200“, den Zinksarg für die sterblichen Überreste gefallener Soldaten.

 

Die ukrainische Armee ist zahlenmäßig und technisch überlegen

Ziel der Fahrt war Donezk. Einer der Stützpunkte der Bürgerwehr ist im Gebäude der früheren Hauptverwaltung des ukrainischen Innenministeriums untergebracht. Sokolow berichtet, dass ein Kommandant alle Namen der

Freiwilligen in eine digitale Datenbank eingab, die danach an den Verteidigungsminister der selbsternannten Republik weitergeleitet wurde, der die Einteilung der Kämpfer an den jeweiligen Frontabschnitten vornahm. Viele hätten die Zuweisung zu einem bestimmten Bataillon beantragt. Zu den angesehensten zähle die Truppe des Kommandeurs Arseni Pawlow, den sie „Motorola“ nennen. In der selbsternannten Volksrepublik Donezk gebe es auch eine Einheit von Igor Strelkow, der zuvor als Verteidigungsminister aufgetreten war. Ein weiterer wichtiger Kommandeur sei Igor Besler. Die Bataillone trügen Namen wie „Wostok“, „Oplot“, „Berkut“ oder „Kalmius“, berichtet Sokolow. Jede Gruppierung habe ihre Besonderheit und eine Anbindung an eine konkrete Region.

Ein Freiwilliger, der sich „Special“ nennt, erklärte dem Journalisten die Unterschiede zwischen den Gruppierungen: „‚Wostok‘ zeichnet sich durch eine strenge Tagesstruktur aus. Es handelt sich um eine militärisch professionelle Einheit mit reibungslosen Abläufen. ‚Oplot‘ steht mehr in der Tradition der Kosaken. Dort geht es unkomplizierter zu, aber die Strafen sind strenger. Für Saufgelage oder andere Ausschweifungen kann man dort erschossen werden.“ Special kämpfe, weil er den Donbass als seine Heimat betrachte, und Heimat, das sei für ihn das gesamte Gebiet der ehemaligen Sowjetunion und „noch ein paar andere Gebiete“, wie er sagt. Alle befragten Kämpfer der Bürgerwehr versicherten Sokolow, ihr Einsatz sei unbezahlt. Nach Aussage eines Angehörigen einer russischen Sondereinsatztruppe erhielten nur die  Personenschützer der höchsten Politiker und Militärs Geld.

Die Bürgerwehr ist nach Auskunft des „RBK“-Korrespondenten mit Waffen und Munition unterversorgt. Häufig zu sehen seien Selbstladekarabiner

Simonow (SKS), die bereits 1949 eingesetzt wurden, oder sogar PPSch-Maschinenpistolen. Wie der Vorsitzende des Obersten Rates der selbsternannten Volksrepublik Donezk, Boris Litwinow, erklärte, bestehe ein Ungleichgewicht zugunsten der ukrainischen Armee. Das Zahlenverhältnis der Truppen liege bei fünf zu eins. 40 000 bis 45 000 ukrainischen Soldaten stünden etwa 10 000 Kämpfern der Bürgerwehr gegenüber. Technisch sei die ukrainische Armee weit überlegen.

Die Rückkehr aus der Ukraine habe sich für Sokolow weitaus schwieriger gestaltet als der Hinweg, wie der Journalist berichtet. Durch die Kampfhandlungen seien die Straßen teilweise zerstört. Sokolow kehrte mit einer Gruppe von Flüchtlingen zurück nach Russland. 

 

Die Originalfassung des Beitrages lesen Sie bei RBC Daily

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