Gedenken an den Terror: Sprengstoffanschläge auf Moskauer Wohnhäuser

Die Erinnerung an die Terroranschläge vom September 1999 ist noch wach. Foto: Dmitri Korobejnikow/RIA Novosti

Die Erinnerung an die Terroranschläge vom September 1999 ist noch wach. Foto: Dmitri Korobejnikow/RIA Novosti

In der Nacht zum 9. September 1999 erschütterte eine gewaltige Explosion die russische Hauptstadt. Terroristen hatten einen Wohnkomplex gesprengt, über 100 Menschen fanden den Tod. Nur vier Tage später sollte ein weiterer Anschlag folgen. Augenzeugen erinnern sich.

Das Nikolo-Pererwinskij Kloster befindet sich nur wenige hundert Meter von jenem Ort entfernt, wo sich in der Nacht zum 9. September 1999 eine Tragödie ereignete. Wie immer war die Kirche des Klosters auch in dieser Nacht geöffnet. Es war 23:58 Uhr, als eine gewaltige Explosion zu hören war: „Alle dachten, dass der Krieg ausgebrochen oder dass das Ende der Welt gekommen sei", erinnert sich der Vorsteher des Klosters, Vater Wladimir.

Tatsächlich wurden in der Uliza Gurjanowa zwei Wohnhäuser des Wohnkomplexes Nr. 19 durch eine Sprengstoffexplosion komplett zerstört. Bei dem Anschlag kamen 106 Menschen ums Leben und weitere 264 wurden verletzt. „Es war ein furchtbarer Anblick. Von dem Wohnkomplex standen nur noch die Randgebäude. Die mittleren beiden Häuserblöcke waren wie mit einem Messer herausgeschnitten worden. Menschen lagen unter den Trümmern. Einige Leute konnten nicht einmal mehr die Überreste der Leichname ihrer Lieben finden. Eine Frau, die oft zu uns in die Kirche kam, hat bei dem Anschlag ihre Familie verloren. Man hat sie daraufhin an das andere Ende der Stadt umgesiedelt, doch sie kommt ständig hierher, um ihrer Familie zu gedenken."

Wiktor Worotilow, Veteran des russischen Innenministeriums und damaliger Leiter des Inspektionsdienstes der Abteilung für Innere Angelegenheiten (OWD) des Stadtbezirks Petschatniki, war einer der Ersten, die am Ort des Anschlages eintrafen. „An diesem Abend hatten wir Gäste zu Hause. Um Mitternacht herum ertönten von überall her Sirenen von Einsatzfahrzeugen. Ich rief sofort einen Kollegen an, der im Dienst war. Er erzählte mir von der Explosion. Wenn man das Wohnhaus sah, war auf den ersten Blick klar, dass es sich dabei nicht um eine Gasexplosion gehandelt haben konnte. Es musste eine Bombe gewesen sein. Die Detonation der Sprengladung war so heftig, dass ein Teil einer Stahlbetonplatte bis zum Nachbarhaus geschleudert wurde und dort eine Mauer einriss. In diesem Nachbarhaus gab es nicht nur große Schäden, sondern auch Opfer. Die Trümmer des Hauses sind bis in den Fluss Moskwa geflogen und haben Bäume umgerissen", berichtet Worotilow.

Foto: ITAR-TASS

„Zuerst waren wir nur fünfzehn bis zwanzig OWD-Einsatzkräfte. Keiner wusste, wo wir anfangen sollten. Alle versuchten nur die Trümmer beiseite zu schaffen, um die Menschen zu befreien, die darunter eingeklemmt waren. Lebende habe ich unter jenen, die man bergen konnte, jedoch nicht gesehen. Es war unmöglich gewesen, diese Explosion und dieses Feuer zu überleben. Auch Tage nach dem Anschlag versuchten viele noch per Hand die Trümmer des Hauses wegzuschaffen und suchten nach ihren Familienangehörigen. Was sie fanden waren Leichenteile, die nur durch spezielle Untersuchungen zugeordnet werden konnten. Unter den Verstorbenen war viele meiner Bekannten und Kollegen, mit denen ich damals zusammengearbeitet habe."

 

Anteilnahme und Hilfsbereitschaft

Neben den gesprengten Wohnhäusern befand sich eine Schule, die sofort zu einer Notunterkunft für die Opfer umfunktioniert wurde. Im nahegelegenen Kino Tula wurde eine Einsatzzentrale eingerichtet, als Anlaufstelle für die Opfer. Bereits am nächsten Tag versammelten sich dort viele Freiwillige, die helfen wollten. Sie brachten Kleidung, Schuhe und

Decken für die Opfer mit. Auch Menschen, die ihre Verwandten und Bekannten suchten, wandten sich an diese Stelle. Ein freiwilliger Helfer war damals Dmitrij Wandysch, Musiklehrer in der Schule Nr. 1041. Er erinnert sich noch gut an den Moment, als ein kleiner Junge in einem der oberen Stockwerke entdeckt wurde, der den Anschlag überlebt hatte. „Die Eltern und das Geschwisterchen, die im Nebenzimmer schliefen, kamen in dieser Nacht ums Leben. Den Jungen entdeckte man erst am nächsten Morgen, als sich der Staub ein wenig gelegt und sich der Rauch etwas gelichtet hatte. Stellen Sie sich einmal folgendes Bild vor: Ein eingestürztes Haus, von dem nur noch ein Stück Fußboden übrig geblieben ist, auf dem ein Bett steht, in dem ein kleiner Junge ist. Das Kind wurde mit einem Feuerwehrkran gerettet. Er kam in ein Krankenhaus und von dort aus zu Verwandten, wie so viele verwaiste Kinder. Auch in den beiden angrenzenden Wohnhäusern gab es viele Verletzte. Sie hatten vor allem Schnittwunden durch Splitter. Doch von den Bewohnern der beiden gesprengten Wohnhäuser hat kaum einer überlebt."

Auf einem Hügel in der Nähe der Anschlagsstelle im Gebiet Petschatniki wurde 2003 eine Gedenkkapelle gebaut. Foto: Michail Fomitschew/RIA Novosti

Die Hilfsbereitschaft war damals überwältigend. „Die Menschen brachten Kleidung und andere praktische Dinge, später dann Geld", erinnert sich der Musiklehrer Wandysch. „Wir durften das nicht annehmen und baten die Spender, das Geld direkt in die betroffenen Familien zu bringen. Wir haben den Kontakt hergestellt und Buch geführt, wer wem wie viel gegeben hat." Viele der Spender wollten aber anonym bleiben. Wandysch erinnert sich an einen jungen Mann, der wortlos 500 Dollar, damals sehr viel Geld, auf den Tisch legte und dann sofort verschwand. Es gab viele stille Helfer wie ihn. Dmitrij Wandysch suchte gemeinsam mit anderen Lehrern nach persönlichen Gegenständen der Opfer in den Trümmern und brachte diese in die Schule, wo sie von Verwandten abgeholt werden konnten. Bei der Suche nach Leichenteilen halfen auch streunende Hunde.

Für den 13. September 1999 wurde Staatstrauer ausgerufen. Genau an diesem Tag erschütterte erneut eine Explosion die Stadt. Um fünf Uhr morgens wurde das Haus Nr. 6/3 an der Kaschirskoe Chaussee in die Luft

gesprengt. Das achtstöckige Ziegelhaus wurde dabei vollkommen zerstört. Dieser erneute Terroranschlag kostete 124 Menschen das Leben, weitere zehn wurden verletzt.

Wiktor Worotilow erinnert sich, dass die Moskauer damals sofort Bürgerwehren gründeten, die Dachböden und Keller auf der Suche nach verdächtigen Personen durchsuchten und in der Nacht auf den Straßen patrouillierten. Die Angst vor weiteren Anschlägen war groß.

Seit damals versammeln sich jedes Jahr in der Nacht vom 8. auf den 9. September unzählige Menschen am Ort der Tragödie, erzählt Aleksej Porchunow, Vorsteher der Bezirksverwaltung Petschatniki. Sie legen Blumen nieder, zeigen Fotos der Verstorbenen und zünden Kerzen an. Auf der Straße werden Gedenkgottesdienste abgehalten.

Auf einem Hügel in der Nähe der Anschlagsstelle wurde 2003 eine Gedenkkapelle gebaut. Dort, wo sich die zwei gesprengten Häuser befanden, ragen heute zwei 22-stöckige Türme in die Luft.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst bei Gazeta.ru.

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