Steigende Jugendgewalt in Russland: Wo sind die Werte?

Jugendliche in Russland verüben immer mehr Gewalttaten. Foto: Shutterstock/ Legion Media

Jugendliche in Russland verüben immer mehr Gewalttaten. Foto: Shutterstock/ Legion Media

Russische Jugendliche zeigen zunehmend aggressives Verhalten. Experten machen die Eltern verantwortlich, die scheinbar keine Zeit mehr für ihre Kinder haben. Diese finden im Internet Aufmerksamkeit und greifen zu immer drastischeren Maßnahmen, um aufzufallen.

Es gab Zeiten, da war das Thema Jugendgewalt in Russland nur aus amerikanischen Nachrichten oder Filmen bekannt. Am 3. Februar 2014 sollte sich das schlagartig ändern. An diesem Tag stürmte der Zehntklässler Sergej Gordejew die 263. Schule in Moskau und erschoss einen Lehrer und einen Polizisten. Der Amoklauf brachte das Thema auch in Russland auf die Tagesordnung; der Strafprozess läuft.

Nach Ansicht von Experten ist der Anstieg der Jugendgewalt, der seit einiger Zeit in Russland zu beobachten ist, auf die Ausbreitung des Internets und insbesondere die wachsende Beliebtheit sozialer Netzwerke zurückzuführen. Dort erhielten Jugendliche die Aufmerksamkeit, an der es ihnen heutzutage in vielen Elternhäusern fehle, glaubt Sofia Tschernatschuk, Oberstufenlehrerin für Russisch. Gespräche zwischen Eltern und Kindern fänden kaum noch statt. „In der Schule kann man sich dem Einzelnen auch nicht intensiv widmen", gibt sie zu. Die Jugendlichen versuchten daher, sich die Aufmerksamkeit im Internet zu holen. Für sie sei es unglaublich wichtig, wie viele „Likes" ihre Beiträge erhielten, erzählt die Lehrerin, und dazu sei jedes Mittel recht. Beachtung sei garantiert, wenn man zum Beispiel einen Film veröffentliche, in dem man jemanden verprügelt. „Dann reden sofort alle darüber", sagt Tschernatschuk.

 

Konsequenzen bleiben aus

Die Filme, in denen auf wehrlose Opfer grundlos eingeprügelt wird, heißen in der Szene „Happy Slapping". Bisher gingen die Urheber fast immer straffrei

Nach Angaben des Russischen Föderalen Dienstes für Statistik wurden in Russland im Jahr 2013 mehr als 67 000 Verbrechen von Personen unter 18 Jahren begangen, daran beteiligt waren fast fünf Prozent aller minderjährigen Schüler.

aus. Es gab zwar einige Fälle, in denen anfangs der Vorwurf des versuchten Mordes erhoben wurde – dafür kann man ab 14 Jahren zur Verantwortung gezogen werden. Aber auch diese Fälle liefen auf eine Geldstrafe hinaus, meist steht am Ende nur eine Bewährungsstrafe für die Jugendlichen. Mit diesem Urteil wird wohl auch der aktuelle Fall von Körperverletzung enden, der in Nischnij Nowgorod verhandelt wird. Hier wurde eine Rentnerin von Jugendlichen überfallen.

Eine Strafe wird ohnehin nur gegen denjenigen verhängt, der Gewalt ausgeübt hat, derjenige, der die Tat filmt, hat überhaupt nichts zu befürchten. In diesem Bewusstsein, ungestraft zu bleiben, würden manche Jugendliche erst zu solchen Taten animiert, glaubt Sofia Tschernatschuk. „Die Jugendlichen testen ihre Grenzen aus", erklärt sie. „Ein Kollege von mir wurde zum Beispiel von einem Schüler beleidigt, aber die Schulleitung stand auf der Seite des Jungen, sodass schließlich der Pädagoge entlassen wurde. Die Kinder lernen, dass sie schlimmstenfalls ausgeschimpft werden, dafür sind sie in der Klasse aber der Held", berichtet die Lehrerin.

Das am meisten eingegebene Suchwort im Internet sind nach Angaben der russischen Suchmaschine Yandex „Spiele". Die virtuelle Welt zieht die Jugendlichen magisch an. Die Abhängigkeit vom Computer haben

Psychologen bereits vor längerer Zeit mit Alkohol- oder Drogenabhängigkeit gleichgesetzt, wobei Rollenspiele, in denen ein Jugendlicher die Welt seines Helden sieht und nach kurzer Zeit beginnt, sich mit ihm zu identifizieren, das größte Suchtpotenzial bergen. „Die Grenze zwischen der realen und der virtuellen Welt verschwimmt", erklärt Anna Portnowa, Leiterin der Abteilung für Kinderpsychiatrie des Serbski-Wissenschaftszentrums für Sozial- und Gerichtspsychiatrie in Moskau. „Das Leben fühlt sich für sie wie etwas Vorübergehendes an. Es scheint ihnen, als wäre alles umkehrbar und könne rückgängig gemacht werden, wie in einem Computerspiel. Man drückt einen Knopf und das Level beginnt von vorn", sagt Portnowa. Das erkläre auch die Suizide unter Jugendlichen und ihre Brutalität ihrem Umfeld gegenüber. „Sie verstehen nicht, dass das, was sie tun, nicht rückgängig zu machen ist", so die Psychiaterin.

Psychologen und Pädagogen beobachten die Entwicklung mit Besorgnis. „Die Eltern der heutigen Jugendlichen sind in den neunziger Jahren aufgewachsen, als die alten Werte schon nicht mehr galten, aber sich auch noch keine neuen entwickelt hatten", versucht Lidija Orlowa, Geschichtslehrerin mit 40 Jahren Berufserfahrung, zu erklären. „Die Eltern verlangen heute von den Lehrern, ihren Kindern Noten zu geben, die diese nicht verdient haben, und zeigen dabei selbst aggressive Verhaltensweisen", berichtet sie aus ihrem Schulalltag. Dies geschehe häufig auf Elternversammlungen. Bei Beschwerden wendeten die Eltern sich sofort an den Direktor oder höhere Instanzen. „Und zu Hause sagen diese Eltern zu ihren Kindern: ‚Das ist ein schlechter Lehrer, er hat dir einmal eine schlechte Note gegeben'", klagt Orlowa.

 

Sport gegen Gewalt

Diese Erfahrungen teilen auch Schulpsychologen. „Zu mir kommen wiederholt Eltern und beschweren sich über Lehrer", erzählt die Schulpsychologin Jekaterina Scherdewa. „Sie bitten mich, in dem Konflikt zu vermitteln, und meinen, der Lehrer möge den Schüler nicht, was sich auf dessen Leistungen auswirke. Doch fast immer stellt sich heraus, dass das Kind nicht die Wahrheit gesagt hat, und die Eltern haben weder die Zeit noch das Bedürfnis, sich mit ihm auseinanderzusetzen."

Meist sitzen die Jugendlichen aus Langeweile vor dem Fernseher oder dem Computer. Früher haben die Schüler an vielen Aktivitäten außerhalb des Unterrichts teilgenommen, doch heute scheint daran wenig Interesse zu

bestehen. „Die Schulen tun, was sie können. Psychologen und Sozialpädagogen helfen auffälligen Jugendlichen. Es werden auch Exkursionen und Ausflüge in Museen angeboten", beteuert Orlowa.

Im vergangenen Jahr wurde in Moskau eine Online-Datenbank entwickelt, um Freizeitangebote leichter finden zu können. Nach Angaben des Ressorts für Bildung der Stadtverwaltung Moskau sind in diesem Netzwerk 264 000 Jugendliche registriert. Es gibt aber 800 000 Schüler in Moskau. „Die Jugendlichen sind einfach zu träge, um nach der Schule noch irgendwohin zu gehen", meint Jekaterina Scherdewa. „An unserer Schule werden Wanderungen und Exkursionen organisiert. Früher musste man die Teilnehmer auf zwei bis drei Gruppen verteilen, heute kommt mit ach und krach eine zustande."

Jekaterina Scherdewa will die Jugendlichen für Sport begeistern, um gegen die steigende Gewaltbereitschaft vorzugehen: „Das beste Ventil für aufgestaute Aggressionen ist körperliche Betätigung. Je öfter die Kinder sich mit anderen im Wettbewerb messen, desto besser", meint sie.

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