Für Gartenfreunde aus Moskau besteht seit 2010 die Möglichkeit, sich gegen Geld im öffentlichen Garten auf dem Gelände des Arma-Werks auszutoben. Foto: TASS
Moskau, ein typisches Fünfetagenhaus: auf der einen Seite eine laute Straße, die die Hausbewohner am Schlafen hindert, auf der anderen ein begrünter Hof. Zwei Aufgänge sind vollkommen unauffällig, aber vor dem dritten blühen Lilien, vor dem vierten wächst ein Kürbis, gepflanzt von einer alten Dame, die die Samen dafür von einer Freundin aus der Datscha bekommen hat und jeden argwöhnisch betrachtet, der sich dem Prachtstück nähert.
In jedem Mehrfamilienhaus findet sich jemand, der unter den Fenstern einen kleinen Garten anlegt. „Guerilla Gardening“ heißt der Fachbegriff dafür. Diese Bewegung, die im Westen schon in den siebziger Jahren aufkam, schlägt in Russland gerade erste Wurzeln. Die „Guerilla-Gärtner“ lassen inmitten der Stadt wilde Gärten oder auch gepflegte Gemüsebeete und Blumenkästen entstehen. Michail zum Beispiel ist ein solcher Guerilla-Gärtner, der regelmäßig von seinen Erfahrungen auf seinem Blog berichtet und dazu Fotos veröffentlicht. Er pflanzt auf seinem Balkon unter anderem Kartoffeln und Erdnüsse an.
Großstadtgemüse
Beliebt bei den Großstadtgärtnern sind aber vor allem Tomatenpflanzen. Ein Schälchen mit einer bereits angesetzten Pflanze kann man in jedem
Supermarkt kaufen. Für ganz Bequeme gibt es Vorrichtungen, die sogar das Gießen überflüssig machen: Der Gärtner muss die Pflanze lediglich ans Licht stellen.
Der Informatiker Pawel Urasow hat das anfängliche Hobby inzwischen zum Beruf gemacht. Heute programmiert er nicht mehr, sondern arbeitet als Hilfskraft im Aptekarski-Garten, einer Zweigstelle des Botanischen Gartens der Moskauer Staatlichen Universität. Dort gräbt er Beete um, hilft bei der Installation von Kunstobjekten und bei der Ernte. Oder er meditiert. Angefangen hat alles mit Cherrytomatenpflanzen, die er von einer Freundin geschenkt bekommen hatte und auf dem Balkon gezogen hat. „Die schmecken toll als Salat“, zeigt er sich begeistert von der eigenen Ernte, die schon dreimal erfolgreich war.
Für Gartenfreunde aus der russischen Hauptstadt besteht seit 2010 die Möglichkeit, sich gegen Geld im öffentlichen Garten auf dem Gelände des Arma-Werks auszutoben. Dort besteht die Möglichkeit, ein Beet zu pachten und die Erfolge bei der Gartenarbeit online zu verfolgen. Anna Morosowa hat mit ihrem im Kunst-Park Nikola-Lenivets gelegenen Landbaubetrieb im Gebiet Kaluga bei Moskau ein ähnliches Projekt auf die Beine gestellt. „Das Projekt sollte ursprünglich über Crowdfunding finanziert werden, es erwies sich aber als unrentabel. Ich hatte ursprünglich die Idee für einen Stadtgarten, wollte dann aber ein größeres Projekt realisieren“, erzählt Morosowa.
Anna war zuvor in der lettischen Botschaft tätig, ihr Mann Sergej als Leiter der Logistikabteilung in einem Geschäft für Pharmaprodukte. Vor vier Jahren
begannen sie damit, ihren Traum von einem landwirtschaftlichen Betrieb zu verwirklichen. Auf etwa 18 Hektar noch nicht vollständig erschlossenem Boden wachsen 75 Pflanzenarten, von buntem Mais bis zu Artischocken. Pestizide kommen dabei nicht zum Einsatz, sagen die beiden. Der Betrieb ist täglich offen für Gäste und Freiwillige. Man kann hier an der frischen Luft arbeiten, sich in einem Zelt ausruhen, sich mit Gemüse eindecken, von dem Sauergemüse kosten, gebratenes Wachtelfleisch essen und Kräutertee in der Natur trinken.
Nach den Plänen der Familie soll der Betrieb bis 2015 Gewinne abwerfen. Entscheidend dafür ist die Nachfrage nach regionalem Gemüse in den großen Städten. Anna und Sergej glauben, dass diese steigen werde und die Verbraucher auch bereit seien, für Bio-Ware etwas tiefer in die Tasche zu greifen.
Gartenarbeit als Erholung
Eine weitere Gruppe der Hobby-Gärtner bilden die Datschenbesitzer, eine recht zahlenstarke Gruppe. Nach Schätzungen der Zeitung „Rossijskaja Gaseta“ haben die Bewohner der Hauptstadt etwa 1,5 Millionen Grundstücke im Moskauer Umland und angrenzenden Gebieten gepachtet. Etwa fünf Millionen Moskauer betreiben landwirtschaftliche Nebenerwerbswirtschaften. Nach Angaben des Meinungsforschungsinstituts Wziom besitzen 48 Prozent der russischen Stadtbewohner Grund außerhalb der Stadtgrenzen.
Am häufigsten widmen Angehörige der älteren Generation sich dem Gartenbau, denn auf dem Lande untätig zu sein, das kennen sie nicht. Ihnen ist kein Weg ins Grüne zu weit. Olga Polgowa zum Beispiel ist 75 Jahre alt. Sie lebt im Moskauer Gebiet und braucht acht Stunden, um mit drei
Vorortbahnen und zwei Bussen zu ihrer Datscha im benachbarten Gebiet Rjasan zu gelangen. Im Haus gibt es keine sanitären Anlagen und keine Heizung, unter den Dielenböden rascheln Mäuse. Aber jedes Jahr im Mai macht sich Olga Polgowa auf den Weg dorthin, um im September mit einigen Kisten voller Äpfel, tütenweise eingefrorenen Beeren und Pilzen, einigen Platten selbst gemachter Pastila und Unmengen von eingemachtem Obst nach Moskau zurückzukehren. „Natürlich fällt die Ernte nicht immer so üppig aus“, erzählt die alte Dame. Aber der Garten sei für sie immer etwas Besonderes. „Er gibt mir das Gefühl, gebraucht zu werden, auch wenn die Kinder schon aus dem Haus sind“, sagt sie.
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
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