Soziologie: Die Russen sind ein sprachloses Volk

Das Fehlen freier Medien ist der Grund für die Sprachlosigkeit des Volkes. Foto: PhotoXPress

Das Fehlen freier Medien ist der Grund für die Sprachlosigkeit des Volkes. Foto: PhotoXPress

Die Russen seien sprachlos, wenn es darum geht, ihre Meinung zu vertreten, haben Soziologen festgestellt. Dies sei ein Erbe aus Sowjetzeiten, in denen abweichende Meinungen Repressionen zur Folge haben konnten, glauben sie. Aber auch heute noch gebe es zu wenig Meinungsvielfalt, vor allem in den Medien.

Mit dem Begriff „Public Aphasia" (zu Deutsch: öffentliche Sprachlosigkeit) wird die Unfähigkeit beschrieben, seine Meinung öffentlich kundzutun. Dieses Problem soll unter den Russen weit verbreitet sein, wie das Zentrum für unabhängige soziologische Forschung (ZUSF) behauptet.

Den Begriff „Public Aphasia" formulierte erstmals der russische Soziologe Boris Gladarew. Seit 2007 untersucht der Wissenschaftler das Kommunikationsverhalten von russischen Bürgerinitiativen, die sich dem Kampf gegen alltägliche Probleme verschrieben haben. Solche Initiativen unterscheiden sich durch ein unterschiedlich stark ausgeprägtes ziviles Bewusstsein, eine unterschiedlich ausgeprägte oppositionelle Haltung und die Fähigkeit, Übereinkünfte zu treffen. Dabei hat Gladarew herausgefunden, dass die gesellschaftlichen Gruppierungen kaum in der Lage seien Übereinkünfte zu treffen. „In der Regel wird Opposition aggressiv ausgeübt. Selbst auf lokaler Ebene mangelt es an Dialog- und Kompromissfähigkeit", behauptet Gladarew im Interview mit der Zeitschrift „Ogonjok".

 

Aggressives Konfliktverhalten

Nikita Pokrowski, Professor für Soziologie an der Higher School of Economics in Moskau, versucht sich an einer Erklärung des Phänomens: „Aggression ist in der russischen Gesellschaft tief verwurzelt, was sehr gefährlich ist. Die zwischenmenschliche Kommunikation verliert dadurch an Effizienz". Seinen persönlichen Erfahrungen nach seien sogar Nachbarschaftsstreitigkeiten ein Beleg dafür. Weiterhin sei das Phänomen auch in Fernseh-Talkshows zu beobachten.

In Russland hätte jede Konfliktpartei eine bereits vorgefasste, eindeutige Meinung, so Pokrowski. Ziel sei es, im Streit dem Gegner einen möglichst schmerzhaften Schlag zu verpassen, erklärt er. Eine beliebte Methode ist, die Meinung des Gegners ad absurdum zu führen und Unterstellungen zu machen, egal ob das Unterstellte dem Gegner völlig fern liegt oder nicht. An sich unbedeutende einzelne Erfahrungen würden über alle Maßen verabsolutiert. Auch vor einer direkten Diskreditierung des Gegenübers würde dabei nicht zurückgeschreckt, beschreibt Pokrowski die russische Streitkultur. Wissenschaftliche Erkenntnisse, Wissen, Fach- und Sachkenntnis würden abgelehnt. „Es dominieren im Gespräch negative Emotionen, Empörung, Entrüstung, bis hin zu offen zur Schau gestelltem Hass", so der Soziologe. „Unter diesen Bedingungen ist ein konstruktiver Dialog unmöglich", resümiert er.

Boris Gladarew weist in seinen Untersuchungen daraufhin, dass das sowjetische „Koordinatensystem", das den gesellschaftlichen Umgang lange Zeit geregelt hatte, als Folge der revolutionären Umgestaltungsvorgänge Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre zerstört worden sei. Dadurch ist ein Vakuum entstanden, das nie wieder ausgefüllt worden sei. Seit dem Zerfall der UdSSR sind bereits 23 Jahre ins Land gegangen, doch noch immer stecke die russische Gesellschaft, nach der Meinung Gladarews, in einer strukturellen Krise. Die Mehrheit der Russen habe nicht einmal die primitivsten kommunikativen Fähigkeiten.

 

Keine Meinungsvielfalt

Der Direktor des Meinungsforschungszentrums Levada Lew Gudkow erklärt diesen Umstand mit der Tatsache, dass die Menschen in der Sowjetzeit ihre Meinung nicht öffentlich äußern konnten. Grund dafür war die Furcht vor Repressionen. „Juri Levada nannte das kollektives Geiseltum", so Gudkow.

Wer in der Sowjetunion eine individuelle Meinung hatte, die nicht mit der der Partei konform ging, und diese öffentlich machte, lief Gefahr, sich selbst, seiner Familie und seinen Freunden zu schaden. Die daraus resultierende Angst führte zu einer Selbstkontrolle. „Es ist also weniger eine Aphasie, ein Unvermögen, sich zu artikulieren, sondern es ist eher Konformismus, ein Anpassen an die Gegebenheiten" ergänzt Lew Gudkow. Im heutigen Russland wollten viele ihre Meinung ebenfalls nicht öffentlich äußern. „Die Russen scheinen bemüht, das zu zeigen, was die Obrigkeit sehen will, nicht aber das, was ihren eigenen Überzeugungen entspricht", glaubt er. „Loyalität und Gehorsam sind Verhaltensweisen, die in Russland weit verbreitet sind, und die im Endeffekt zu politischer Passivität und Apathie führen", fasst Gudkow zusammen.

Die aktuelle Situation, so Gudkow, sei aber nicht nur aus der Furcht vor Repressionen heraus entstanden, sondern auch, weil die Medien in Russland kontrolliert würden. „Heutzutage sind alle unabhängigen oder alternativen Medien unterdrückt. Das macht den Menschen noch mehr Angst", betont Gudkow. Das sei auch ursächlich für den Unwillen der

Russen, an der Herausbildung einer Gesellschaft mit bürgerlicher Prägung mitzuwirken.

Dr. Nikolai Wakhtin, Professor an der Europa-Universität in Sankt Petersburg, sieht ebenfalls einen Zusammenhang zwischen der öffentlichen Sprachlosigkeit der Russen und dem Fehlen freier Massenmedien. „Um das öffentliche Gespräch zu entwickeln, brauchen wir vor allem öffentliche Plattformen, darunter auch im Fernsehen, wo zur Zeit nur ein einheitlicher Standpunkt vertreten wird", so Wakhtin. „Hätten wir ein anderes Fernsehen, könnten die Menschen auf den TV-Kanälen auch erleben, wie unterschiedliche Standpunkte vertreten werden: Dann würden sie verstehen, dass derjenige, der eine andere Meinung hat, nicht unbedingt ein Bösewicht oder Taugenichts ist. Würden sich unsere Medien mehr in dieser Richtung bewegen, hätten wir bei uns auch eine ganz andere Staatlichkeit", resümiert Wakhtin. Ein solcher Prozess könne allerdings Jahrzehnte in Anspruch nehmen, von heute auf morgen, sei da nichts zu machen, sagt der Wissenschaftler.

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