Russischer Arbeitsmarkt: Vor dem Arbeitgeber ist niemand gleich

In Russland ist Diskriminierung am Arbeitsplatz weit verbreitet. Foto: Lori/Legion Media

In Russland ist Diskriminierung am Arbeitsplatz weit verbreitet. Foto: Lori/Legion Media

Jeder vierte Arbeitnehmer in Russland ist am Arbeitsplatz mit Diskriminierung konfrontiert. Nicht nur das Geschlecht, Alter oder der Wohnort können für Bewerber und Arbeitnehmer zum Verhängnis werden, auch das Aussehen oder der Lebensstil sind von Bedeutung.

Diskriminierung beginnt für viele Arbeitsuchende in Russland bereits vor dem Bewerbungsgespräch. Denn laut Studien des Zentrums für Sozial- und Arbeitsrecht (ZSTP) enthielten im Jahr 2007 59 Prozent aller in Moskau veröffentlichten Stellenausschreibungen dezidierte Anforderungen hinsichtlich des Geschlechts, 35 Prozent hinsichtlich des Alters und 21 Prozent respektive 20 Prozent hinsichtlich der Staatsbürgerschaft und des Wohnorts der Bewerber. Um diesem Umstand entgegenzuwirken, wurde vergangenen Sommer ein Artikel in das Ordnungswidrigkeitsgesetzbuch der Russischen Föderation aufgenommen, der es ermöglicht, Arbeitgeber und auch Personaldienstleister sowie Jobportale abzustrafen, die diskriminierende Stellenanzeigen veröffentlichen. Die Anzahl solcher Ausschreibungen ist seither zwar zurückgegangen, für russische Arbeitsuchende hat sich jedoch nicht viel geändert.

„Zu uns kommen oft junge Frauen, die bei Bewerbungsgesprächen gefragt wurden, ob sie einmal heiraten und Kinder haben möchten oder ob sie bereits Kinder haben“, erzählt Sergej Saurin, Leiter der juristischen Abteilung des ZSTP. „Doch selbst wenn der Arbeitgeber mündlich angibt, dass er aus diesen Gründen eine Kandidatin ablehnt, so würde er dies nie in schriftlicher Form bestätigen.“ Dies ist einer der Hauptgründe dafür, warum es in Russland so wenige erfolgreiche Gerichtsverhandlungen wegen Diskriminierung gibt, denn russische Gerichte erkennen Audioaufzeichnungen von Bewerbungsgesprächen als Beweismittel nicht an.

„Letztes Jahr konnten wir eine Gerichtsverhandlung wegen Diskriminierung der Herkunft eines Bewerbers gewinnen. Bei dieser Verhandlung hatten wir zum Glück schriftliche Beweise“, sagt Saurin. Dabei ging es um einen Moskauer asiatischer Abstammung, der sich bei einer Firma über ein Jobcenter beworben hatte. Das Jobcenter verlangt vom Arbeitgeber, den Grund für die Ablehnung des Bewerbers in schriftlicher Form anzugeben – was die Firma tat: Sie begründete ihre Absage mit dem „nicht-slawischen Aussehen“ des Bewerbers. „Das Gericht erkannte dies als Diskriminierung an und verpflichtete den Arbeitgeber, 30 000 Rubel (rund 525 Euro) als Entschädigungszahlung an den Bewerber auszuzahlen“, erzählt Saurin und fügt bitter hinzu: „Die Arbeitsstelle erhielt der junge Moskauer trotzdem nicht.“

Besser geschieden als ledig

Auch schwangere Frauen suchen oft Unterstützung bei den Juristen des ZSTP, denn Schwangere dürfen laut Gesetz nicht entlassen werden. Doch in der Praxis werden vielfach alle Register gezogen, damit die Arbeitnehmerinnen selbst das Arbeitsverhältnis aufkündigen. „Sobald eine Frau bekannt gibt, dass sie ein Kind erwartet, beginnen die Angriffe auf ihre Person“, berichtet Saurin: „Man nimmt ihr ihren Arbeitsplatz weg, stört sie bei der Arbeit und ähnliches.“ Denn für Arbeitgeber sei es oft nicht rentabel, solche Mitarbeiterinnen anzustellen, gerade da schwangere Frauen und Mütter mit kleinen Kindern in Russland einen gewissen Schutz genießen. Diese dürfen nämlich in den ersten drei Lebensjahren ihres Kindes nicht gekündigt werden.

Doch junge Frauen mit Kindern sind nicht die einzige Gruppe, die diskriminiert wird. „Noch vor etwa zehn Jahren war es in unserer Firma üblich, dass Frauen für zu besetzende Führungspositionen überhaupt nicht in Betracht gezogen wurden“, erzählt Sinaida Masterkowa, Leiterin der Personalabteilung einer großen russischen Einzelhandelskette, und zieht eine negative Bilanz: „Sogar heute ist es für Frauen noch unmöglich, eine Führungsposition, bei der etwa 100 bis 150 Mitarbeiter geleitet werden

sollen, einzunehmen.“ Männer haben diese Möglichkeit, doch sie müssen ganz bestimmte Anforderungen erfüllen. „Bei uns müssen männliche Führungskräfte Familienmenschen sein und, wenn möglich, bereits Kinder haben. Aus diesem Grund ist es für Männer besser, geschieden zu sein als unverheiratet“, erklärt Masterkowa.

Laut dem Moskauer Arbeitsamt sind 42 Prozent der Arbeitslosen zwischen 45 und 54 Jahre alt, wobei etwa 67 Prozent davon Frauen sind. „Meine Mutter ist 52 Jahre alt und ihr bleiben noch drei Jahre bis zur Rente. Doch schon jetzt bekommt sie lediglich Stellen als Wachfrau oder Haushaltsgehilfin“, beschwert sich Irina Leonowa. „Wenn sie in ihrem Lebenslauf ihr Geburtsdatum nicht angibt, dann rufen sie die Firmen meist gleich an. Doch sobald diese ihr Alter erfahren, verlieren sie schnell das Interesse an ihr“, erzählt sie.

Zu den Hauptgründen, warum Menschen, die älter als 45 sind, diskriminiert werden, zählen vor allem schlechte Computerkenntnisse sowie eine verminderte Leistungsfähigkeit. „Bei uns schätzt man es mehr, wenn man schneller durch die Korridore laufen kann, als wenn man viel Erfahrung hat“, meint die 61-jährige Anna Korablewa. „Ich bin zwar schon nah an der Rente, aber ich bin auch eine erfahrene Beraterin. Und trotzdem spüre ich, wie mir die jüngeren Kollegen förmlich im Nacken sitzen“, beschwert sich Korablewa.

Die Russen kämpfen nicht um ihre Rechte

Das russische Strafgesetz- sowie das Ordnungswidrigkeitsgesetzbuch enthalten eigene Artikel, die sich auf Diskriminierung beziehen. Jedoch wurde Diskriminierung nach dem russischen Ordnungswidrigkeitsgesetzbuch kein einziges Mal geahndet. Und Verhandlungen nach dem Strafgesetzbuch wurden zwar ins Rollen gebracht, allerdings ist bis heute niemand tatsächlich zur Verantwortung gezogen worden. Die einzigen Strafen, die von den Gerichten verhängt wurden,

waren Entschädigungszahlungen. „Die Richter halten Diskriminierung nicht für ein ernstzunehmendes Vergehen“, erklärt Jewgenij Kulikow, Generalsekretär des Russischen Gewerkschaftsbundes.

Laut dem ZSTP soll noch vor einigen Jahren nur etwa ein Prozent aller Arbeitnehmer vor Gericht gegangen sein. Genauso viele sollen auch vor das russische Arbeitsschiedsgericht gegangen sein, um Konflikte mit ihren Arbeitgebern zu lösen. Und etwa 90 Prozent aller Arbeitnehmer haben ihre Rechte noch nie vor Gericht eingefordert. „Die Russen sind es nicht gewohnt, um ihre Rechte zu kämpfen. Sie lästern über ihre Arbeitgeber lediglich in den Raucherräumen und hauen bei sich zu Hause mit geballter Faust auf den Tisch. Wenn es jedoch hart auf hart kommt, dann bangen sie um ihre Arbeitsplätze. Die Menschen wissen einfach nicht, dass man seine Rechte auch geltend machen kann“, meint Kulikow.

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