Lewada-Umfrage: Patriotismus liegt in der Luft

„Den Russen ist bewusst, dass die wirtschaftliche Lage derzeit nicht so rosig ist wie zum Beispiel im Westen, aber sie sind stolz auf die Geschichte Russlands“, sagen Soziologen. Foto: Ramil Sitdikov / RIA Novosti

„Den Russen ist bewusst, dass die wirtschaftliche Lage derzeit nicht so rosig ist wie zum Beispiel im Westen, aber sie sind stolz auf die Geschichte Russlands“, sagen Soziologen. Foto: Ramil Sitdikov / RIA Novosti

Patriotismus liegt in Russland zurzeit hoch im Kurs. 86 Prozent der Russen sind laut einer Umfrage stolz auf ihre Nationalität. Doch wird das auch noch so sein, wenn sich die wirtschaftliche Lage im Land weiter verschlechtert?

Das unabhängige Meinungsforschungsinstitut Lewada-Zentrum hat die Russen zu ihrer Haltung zu ihrem Heimatland befragt. An der Ende Oktober durchgeführten Umfrage nahmen 1 630 Menschen aus 134 Städten und Ortschaften in 46 Regionen Russlands teil.

Wie Aleksej Graschdanskij, stellvertretender Leiter des Lewada-Zentrums, berichtet, bejahten 86 Prozent der Russen die Frage, ob sie stolz auf die Geschichte Russlands seien und deshalb auch stolz darauf, in Russland zu leben. Dieser Wert wurde zuletzt 2008, vor der großen Finanzkrise, erreicht. Auf die Frage, ob sie stolz darauf seien, im heutigen Russland zu leben, antworteten 69 Prozent der Befragten mit „Ja“. Etwa die Hälfte

der Befragten forderte Loyalität gegenüber der politischen Führung, selbst wenn diese Fehler mache. Lediglich 20 Prozent der Befragten erklärten, sich für ihr Land zu schämen. Vor zehn Jahren waren das noch 80 Prozent.

Graschdanskij glaubt, dass die Basis für Nationalstolz nationaler Wohlstand und die persönliche finanzielle Situation der Bürger sowie die Aussicht auf eine gesicherte Zukunft sei. Je besser die wirtschaftliche Lage im Land, desto mehr Menschen empfänden Stolz für ihr Heimatland. Je aussichtsloser die Zukunft sei, desto unpatriotischer würden die Bürger.

Für die Russen spiele darüber hinaus aber auch die Wahrnehmung der Rolle Russlands in der Geschichte eine Rolle für die Ausbildung des Nationalstolzes. „Den Russen ist bewusst, dass die wirtschaftliche Lage derzeit nicht so rosig ist wie zum Beispiel im Westen, aber sie sind stolz auf die Geschichte Russlands“, sagt er. In den wirtschaftlich schwierigen Jahren, in denen der Fokus der russischen Regierung allein auf der Lösung wirtschaftlicher Probleme, nicht aber auf der Einflussnahme auf die Weltpolitik gelegen habe, sei der Nationalstolz weniger ausgeprägt gewesen, konstatiert Graschdanskij. Der wiedererstarkte Patriotismus sei daher auch damit zu erklären, dass Russland wieder eine so bedeutende Rolle für die Weltpolitik spielen wolle wie damals die Sowjetunion, so der Soziologe.

 

Wird die Wirtschaftskrise den Nationalstolz dämpfen?

Auch die Politik widmet sich dem Thema Nationalstolz. Wadim Solowjew, Duma-Abgeordneter der Kommunistischen Partei Russlands ist ein glühender Verfechter des russischen Patriotismus. Er erinnert an die „große“ und „mächtige“ Geschichte des Landes und an die Weite der russischen Seele: „Für uns ist die Gerechtigkeit kostbarer als ein Stück Brot.“ Die Russen hätten Herausragendes geleistet: „Im  Zweiten Weltkrieg haben die

Russen mit eigenen Kräften Europa verteidigt. Wir sind als erste in den Weltraum geflogen und die ganze Welt ist darauf stolz. Wir haben große Schriftsteller, Dichter und Musiker hervorgebracht.“ Er ist überzeugt, dass Russland „allen Herausforderungen trotzen wird“. Daher hat Solowjew auch einen Gesetzentwurf initiiert, demzufolge jeder Russe bei Erhalt seines Personalausweises einen feierlichen Eid ablegen soll. „Das soll ein Fest werden, an dem Veteranen, Vaterlandsverteidiger und Regierungsvertreter teilnehmen“, fordert er. Der Moment solle das ganze Leben in der Erinnerung junger Menschen bleiben, „damit sie stolz auf ihr Heimatland sind“, findet der Abgeordnete.  

Roman Dobrochotow ist Dozent am Lehrstuhl für Politikwissenschaft an der Staatlichen Akademischen Universität der Geisteswissenschaften und ein Vertreter der Opposition. Er gibt sich weitaus weniger pathetisch und meint, dass die Zahl derer, die stolz auf ihre russische Herkunft sind, höher sei als die derer, die zufrieden sind mit der russischen Politik. „Anders gesagt: Die Menschen sind nicht wegen, sondern trotz der russischen Politik patriotisch“, sagt er. Er hält solche Umfragen für nicht besonders aussagekräftig. Er glaubt, dass die Befragten so antworteten, wie es von ihnen erwartet würde. „Tatsächlich ist die Stimmung im Land differenzierter. Ein Teil der Bevölkerung zeigt sich empört über die Entwicklung in der Ukraine, über Korruption und die sozialen Probleme in Russland“, weiß er. „Der andere Teil ist seit der Eingliederung der Krim vom Patriotismus ergriffen. Im Frühling und im Sommer waren die Nationalisten sehr präsent

und eine schweigende Mehrheit neigte dazu, ihre Position zu befürworten“, führt er weiter aus. Doch seit Anfang Herbst verändere sich der Blickwinkel erneut, stellt Dobrochotow fest. Das sei auch zu erwarten gewesen: „Der Konflikt in der Ukraine gerät in den Hintergrund und die wirtschaftliche Lage tritt wieder in den Vordergrund. Dazu haben die Patrioten nichts beizutragen.“ Dieses patriotische Hochgefühl werde seiner Meinung nach langsam wieder abflauen. 

Aber auch dann noch bliebe die Vaterlandsliebe. Ein Gefühl, das mehr dem Bereich der Psychologie zuzuordnen sei, wie Aleksej Graschdanskij erklärt: „Patriotismus ist rational, der Mensch pflegt die Beziehung zum eigenen Land bewusst. Vaterlandsliebe ist eher unbestimmt.“  

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