Nächstenliebe in Russland auf den Prüfstand

Psychologen fanden heraus, dass man in Russland aggressiver im Alltag ist, als in den USA. Foto: Sergej Pjatakow / RIA Novosti

Psychologen fanden heraus, dass man in Russland aggressiver im Alltag ist, als in den USA. Foto: Sergej Pjatakow / RIA Novosti

Russische Verhaltensforscher untersuchten die russische Bevölkerung in den letzten 30 Jahren hinsichtlich ihres Konfliktpotentials und kamen zu interessanten Thesen.

„Die Russen sind konfliktfreudiger geworden, böswilliger, schamloser und haben in vielen Bereichen die Fähigkeit zur Selbstkontrolle verloren". So lauten zusammengefasst die Ergebnisse der Studie über die russische Bevölkerung aus psychologischer Sicht für die Zeitspanne von 1981 bis 2011. Über die Studie und über Möglichkeiten der Aggressionsüberwindung sprach „Rossijskaja Gaseta" mit dem stellvertretenden Direktor des Instituts für Psychologie bei der Russischen Akademie der Wissenschaften Andrej Jurewitsch.

Rossijskaja Gaseta: Nach Ihren Daten sind die Bewohner Russlands im Vergleich zu den 1980er Jahren um das Dreifache aggressiver und völlig schamlos geworden. Wie kamen Sie zu der Aussage und wie kann man Aggressivität messen?

Andrej Jurewitsch: Ich will zuvor richtigstellen, dass es nicht um „alle Russen" geht. Es geht um allgemeine psychologische Charakteristika der Gesellschaft, also nicht um eine Detailanalyse der Bevölkerung. Was die Methoden der Bewertung und der Messung des Aggressivitätsniveaus angeht, so werteten wir statistische Daten wie zum Beispiel die Anzahl an schweren Verbrechen mit aggressivem Charakter aus.

Ein bedrückender Wert ist hierbei die Mordstatistik. In diesem Kriterium führt Russland vor den USA und hat etwa zehnmal mehr Morde pro Kopf als die meisten westeuropäischen Länder. Eine andere Möglichkeit sind die soziologischen und sozial-psychologischen Studien, wenn die Forscher beispielsweise in der U-Bahn durch die Wagen gehen und um einen Sitzplatz bitten und dabei niederschreiben, welcher Prozentsatz der Befragten ihn anbietet und wie man auf eine solche Bitte reagiert.

Die dritte Methode schließlich ist unsere gemeinsame Alltagserfahrung. Wir nutzen ständig die Nahverkehrsmittel, beobachten das Verhalten unserer Autofahrer auf den Straßen und das unserer Mitbürger in den Geschäften, auf der Straße und könnten, wenn wir wollten, nachzählen, wie oft wir während der Woche oder während des Monats angeschrien wurden, oder mit anderen Formen der Respektlosigkeit konfrontiert worden sind.

Man hat aber den Eindruck, dass man Sitzplätze in den Nahverkehrsmitteln bereitwilliger anbietet. Wie erklären Sie das?

Das ist wahr, Anfang der

1990er passierte das sehr selten, heute bietet man seinen Sitzplatz viel öfter an. Aber gleichzeitig, wenn wir über schwere Verbrechen sprechen, tritt eine andere für unser Land charakterichtische Tendenz zum Vorschein: 80 Prozent aller Morde passieren bei uns in einem Zustand der spontanen Aggressivität. Die Statistik bestätigt, dass in jeder vierten Familie alltägliche Gewalt zu finden ist, und dass Gewalt meist in finanziell schwachen Familien mit niedrigem Bildungs- und Kulturniveau auftritt, wo zudem Alkoholismus verbreitet ist.

Gibt es Hoffnung auf ein friedlicheres Zusammenleben?

Wir glauben, dass keine Nation zu lange in einem permanent überaggressiven Zustand bleiben kann. Im Moment ist das Aggressivitätsniveau in unserer Gesellschaft relativ hoch und man kann nur über eine teilweise Verbesserung der Situation reden, nicht aber über ihre komplette Umkehrung. Wir entfernen uns immer weiter vom Anfang der 90er, als die radikalsten gesellschaftlichen Veränderungen passiert sind, die sich auch auf den Umgang der Mitbürger untereinander auswirkten. Wir werden nun ruhiger und gewöhnen uns langsam an die neuen Gegebenheiten. Außerdem fahren manche unserer Mitbürger in den Urlaub, meist in sehr freundliche europäische Länder und sehen, wie man dort kommuniziert, spüren dadurch, dass die Freundlichkeit eine Norm der sozialen Beziehungen ist, nehmen diese Norm an und übertragen sie weiter in der Heimat.

Gibt es noch andere, effizientere Wege, Aggressionen im Alltag zu verringern?

Gibt es, und dazu existieren besondere psychologische Methoden. In den USA gibt es eine solche Praxis. Wenn ein Autofahrer in einen Unfall verwickelt ist, als dessen Ursache sein zu aggressiver Fahrstil festgestellt wurde, wird er zu bestimmten Kursen zur Aggressionskontrolle verpflichtet. Wenn man bei einem Menschen ein positives Bild seiner selbst, seines Lebens und seiner Umwelt prägt, dann wird sein Umgang mit anderen Menschen viel besser, die Aggressivität bildet sich zurück.

Ein weiterer starker Angriffspunkt ist das Bildungs- und Erziehungssystem. Es ist sehr wichtig, dass dieses Erziehung, ob privat oder staatlich, eine

positive Einstellung der Welt gegenüber fördert. Nehmen wir als Beispiel die neuen russischen Geschichtsbücher. Es wurde festgestellt, dass die Anzahl der negativen Episoden der Geschichte unseres Landes deutlich größer ist als die Anzahl der positiven. In den USA ist alles umgekehrt. Ihre Geschichte wird in ein besseres Licht gerückt, was bei den Amerikanern ein positives Bild ihres Landes und seines Volkes schafft. Es ist klar, dass bei diesem Vorgehen der Vergangenheitsaufbereitung ein Konflikt mit der objektiven Norm der wahrheitsgemäßen Darstellung auftritt. Aber man braucht ein gesundes Maß, denn ein Überfluss an negativen Episoden schafft auch ein negatives Bild der Geschichte des Landes und damit fühlen sich auch die Bewohner schlechter, was Aggressionen durch Minderwertigkeitskomplexe fördert.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst bei Rossijskaja Gaseta.

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