Wie leben Roma in Russland?

Für Roma ist es sehr schwierig, selbst eine schlecht bezahlte Arbeitsstelle zu bekommen. Deshalb sehen sie sich mit dem Problem konfrontiert, wie sie ihre Kinder ernähren sollen. Foto: Pawel Lissitsyn / RIA Novosti

Für Roma ist es sehr schwierig, selbst eine schlecht bezahlte Arbeitsstelle zu bekommen. Deshalb sehen sie sich mit dem Problem konfrontiert, wie sie ihre Kinder ernähren sollen. Foto: Pawel Lissitsyn / RIA Novosti

Die Volksgruppe der Roma ist in Russland eine kleine Minderheit – etwa 250 000 der 146-Millionen-Bevölkerung zählen dazu. In den Landesgrenzen sind sie kein Nomadenvolk mehr: Sie bevorzugen es, Häuser zu kaufen und sesshaft zu werden. Dennoch wecken sie bei ihren Nachbarn Misstrauen.

In Russland leben rund 20 ethnische Roma-Gruppen, die im europäischen Teil des Landes, in Sibirien und im Kaukasus angesiedelt sind. Laut Nadeshda Demetr, Leiterin der Nationalen Kulturautonomie derrussischen Roma, lebt ein Großteil von ihnen – etwa 25 Prozent – in den Regionen Stawropol und Krasnodar sowie im Gebiet Rostow. Alle Roma sind in Russland seit 1956 sesshaft, als die Weisung „Über die Einbeziehung von vagabundierenden Zigeunern in Arbeitsverhältnisse“ erlassen wurde. Die letzten zumindest teilweise nomadisch lebenden Roma sind Zugereiste aus Transkarpatien und Usbekistan, die aus den ehemaligen Sowjetrepubliken kommen, um Arbeit zu finden.

Vermeintliche Verbrecher

Russen begegnen Roma mit Argwohn. Einer Umfrage zufolge, die das Lewada-Zentrum 2005 durchführte, gestanden 20 Prozent der Befragten, dass sie Roma gegenüber Misstrauen und Angst empfinden, weitere 31 Prozent sagten, dass Roma bei ihnen Gereiztheit und Abneigung wecken. 2013 äußerten 32 Prozent der Befragten, dass die Anzahl der Roma im Land reduziert werden müsse. Im Juli 2014 war diese Rate auf 23 Prozent zurückgegangen. Allerdings ist auch dieser Wert noch erschreckend hoch.

Die öffentliche Meinung, oft auf Mythen und Gerüchten beruhend, trägt zur allgemeinen Stimmung bei. Oleg Wiktorow aus Iwanowo in Mittelrussland, meint, dass er vor den Roma keine Angst habe, er aber dennoch Begegnungen mit ihnen nicht unbedingt als angenehm empfinde. „Bei den Roma ist die Grenze zwischen Recht und Kriminalität unklar“, sagt er und erzählt: „Als ich vor ein paar Jahren zum Zug eilte, wollte ich einem Roma-Mädchen helfen und gab ihr eine Münze. Ihre Mutter wollte sich bei mir bedanken, mir die Zukunft vorhersagen und vor Unheil schützen. Im Endeffekt habe ich ihr ziemlich viel Geld gezahlt.“ Er hätte nicht unter Hypnose gestanden, aber die Roma-Frau habe sich sehr geschickter psychologischer Tricks bedient. „Die Roma, hauptsächlich Frauen und Kinder, betteln seit etwa 15 Jahren auf dem einzigen Bahnhof in Iwanowo.“ Heute habe sich ihr Konzept geändert: Nun verkauften sie Spiel- und Werkzeug sowie anderen Kleinkram. Die Einwohner ändern ihre Einstellung ihnen gegenüber aber nicht: „Wir bemühen uns, ihnen aus dem Weg zu gehen. Wenn sie mich in Ruhe lassen, tue ich ihnen auch nichts“, so Wiktorow.

Aufgrund dieses Misstrauens gab es in Russland auch schon schwere Zwischenfälle. In einer sibirischen Kleinstadt im Gebiet Nowosibirsk wurden Roma des Drogenhandels verdächtigt. Daraufhin setzten Einheimische mehrere Häuser von Roma-Familien in Brand.

Meinungen, dass die Roma-Bevölkerung kriminell veranlagt sei, seien übertrieben, meint Nikolai Bessonow, Experte für Roma-Kultur. „Ein staatlicher Sender hat im Frühling dieses Jahres ‚inoffizielle Zahlen‘ verbreitet, nach welchen 15 Prozent aller in Russland inhaftierten Männer und bis zu 60 Prozent der inhaftierten Frauen Roma seien“, erzählt der Ethnograf. „Wenn man sich aber die Gesamtzahl der Inhaftierten anschaut, wird klar, dass bei diesen Werten mehr Roma in den Gefängnissen sitzen, als die gesamte erwachsene Roma-Bevölkerung landesweit überhaupt ausmacht.“ Die Pressestelle des Föderalen Dienstes für Strafvollzug sagte RBTH, es gebe keine Statistiken zur nationalen Zugehörigkeit von Inhaftierten; man sei jedoch davon überzeugt, dass die Raten von 15 und 60 Prozent übertrieben seien.

Dennoch gibt es Probleme mit Roma-Kriminalität. Vor allem geht es dabei um Diebstahl und Drogenhandel. „Prozentual gesehen ist die Rate von Drogenhändlern unter den Roma höher als unter den Russen, am Drogenmarkt machen sie jedoch lediglich fünf Prozent aus“, weiß Bessonow zu berichten. Seiner Ansicht nach gibt es zwei große Probleme: das negative Image, das den Roma im nationalen Bewusstsein anhaftet, und der Verzicht der Roma, etwas dagegen zu unternehmen. „Die Roma sollten aufhören, sich wie Verschworene zu verhalten, und die Medien sollten von einseitigen Klischees Abstand nehmen.“

Gesetzestreu, aber arbeitslos

Zur Stalin-Zeit seien Roma nach Sibirien verbannt worden, berichtet Bessonow. Deshalb hätten nomadisierende Bürger begonnen, ihre ethnische Zugehörigkeit zu verheimlichen. „Im Endeffekt bildete sich eine Intellektuellenschicht unter den Roma heraus: ganze Ärzte-, Ingenieurklans und Studenten, die jedoch von der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen werden. Sie haben russische Namen angenommen, führen ein typisch russisches Leben und geben ihre Abstammung nicht kund“, führt der Ethnograf aus.

Dennoch sei es um den Bildungsstand bei den Roma heute nicht gut bestellt. „Die Kalderasch zum Beispiel, die aus Rumänien kommen, leben in Russland sehr isoliert. In ihrem Milieu gehört schon sehr viel dazu, um die Grundschule abzuschließen. Letztendlich ist die Rate von gebildeten Menschen unter den Roma geringer als unter den Russen“, meint Bessonow. 2013 hat die Nationale Kulturautonomie der Russischen Roma einen Zuschuss des Präsidenten für die Umsetzung des Projekts „Bildung als Mittel für die Integration der Roma in die russische Gesellschaft“ erhalten.

Laut Informationen von Bessonow ist es für Roma sehr schwierig, selbst eine schlecht bezahlte Arbeitsstelle zu bekommen. „Deshalb sehen sie sich mit dem Problem konfrontiert, wie sie ihre Kinder ernähren sollen. Sie lösen es auf unterschiedliche Weise. Viele Familien leben vom Kleinhandel, sammeln Altmetall oder übernehmen Heimarbeiten für einen Stücklohn“, sagt er. Der Wissenschaftler meint, dass für die Probleme der russischen Roma eine umfassende Lösung gefunden werden müsse: eine flexible Sozialpolitik des Staates, um bedürftigen Roma-Familien zu helfen, eine bessere Ausbildung der Kinder und die Förderung einer positiven Einstellung der Russen gegenüber den Roma.

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