Angeblich dürfen sexuelle Minderheiten in Russland nicht mehr Auto fahren. Foto: AP
Bis Ende 2014 gab es keine gesonderte Verordnung in Russland, die medizinische Normen speziell für Autofahrer vorgesehen hätte. Ende Dezember aber verabschiedete die russische Regierung eine solche Verordnung, die für einiges Aufsehen gesorgt hat. Umstritten an dem Dokument ist vor allem eine Auflistung sogenannter medizinischer Anomalien, die es den Betroffenen künftig unmöglich machen, einen Führerschein zu bekommen.
Skandalöse Verordnung
Bei der Zusammenstellung der Liste von Krankheiten, die die Fahrtüchtigkeit einschränken, bezog die russische Regierung sich auf die International statistisch klassifizierten Krankheiten und verwandten Gesundheitsprobleme (ICD) der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Dem Beschluss zufolge dürfen Personen mit psychischen Störungen oder Verhaltensstörungen nicht Auto fahren. Dazu zählen allerdings auch „Störungen der Geschlechtsidentität" und „Störungen der Sexualpräferenz", wozu laut der ICD Transsexualität, Fetischismus, Voyeurismus und andere sexuelle Neigungen gehören.
Journalisten und bekannte Persönlichkeiten werfen der Regierung vor, Homo-, Bi- und Transsexuellen das Autofahren untersagen zu wollen. Jelena Masjuk, ein Mitglied des russischen Menschenrechtsrats, rief dazu auf, die Verordnung auf ihre Gesetzeskonformität hin zu überprüfen. Sie befürchtet durch die neue Regelung eine „Verletzung der Bürgerrechte". Auch Nils
Muižnieks, der Menschenrechtskommissar des Europarats, kritisierte die neue Verordnung und erklärte, die „Diskriminierung von Menschen auf einer solchen Grundlage (ihrer sexuellen Orientierung – Anm. d. Red.)" sei „eine Verletzung der europäischen Normen hinsichtlich der Menschenrechte".
Das Gesundheitsministerium wies die Vorwürfe jedoch zurück. Die Verordnung werde sowohl von den Verteidigern der Rechte von Homo-, Bi- und Transsexuellen als auch von deren Gegnern falsch verstanden, behauptet das Ministerium. „Das Vorliegen einer psychischen Störung allein spricht noch nicht für ein Fahrverbot", erklärte der Pressesekretär des Ministeriums Oleg Salagai am Dienstag. Bei medizinischen Anomalien werde der Erwerb des Führerscheins nur „im Falle starker dauerhafter oder gehäuft starker Krankheitserscheinungen" nicht möglich sein, beschwichtigte er, eine entsprechende Formulierung gebe es auch im Text der Verordnung. Laut Salagai ist „abhängig von der konkreten Erkrankung nur ein kleiner Anteil der Patienten von solchen Ausprägungen psychischer Störungen betroffen."
Einzelfallprüfung vor Pauschalurteil
Die Psychoanalytikerin Marina Kljaschtornaja warnt davor, komplexe sexuelle Abweichungen mit einem generellen Verbot abzuhandeln. „Ein Psychiater muss in jedem konkreten Fall entscheiden, ob die Ausprägung sich auf die Fahrtüchtigkeit auswirkt oder nicht", sagt Kljaschtornaja gegenüber RBTH. Die Psychologin ist der Ansicht, dass Störungen der Sexualität in der Regel mit bestimmten, zwanghaften Ideen verbunden seien
und dass die Art und Weise, wie diese Ideen sich auf die Psyche eines Menschen auswirken, ein Experte feststellen müsse.
Viktor Trawin, ein Experte auf dem Gebiet der Gesetzgebung zur Verkehrssicherheit, stimmt den Vertretern des Gesundheitsministeriums zu. Im Gespräch mit RBTH bekräftigte er: „Die Formulierung der Verordnung sieht vor, dass nur diejenigen nicht ans Steuer dürfen, die durch eine Erkrankung unangemessene Verhaltensweisen – zum Beispiel Aggressivität – zeigen. Im Moment ist das Aggressionsniveau auf russischen Straßen schon hoch genug. Wer sich angemessen verhält, kann unabhängig von seiner oder ihrer sexuellen Orientierung oder Neigung Auto fahren."
Gleichzeitig steht Trawin der Idee einer Liste mit Erkrankungen, die das Autofahren verbieten, skeptisch gegenüber. Sie könnte zur Korruption verführen, befürchtet er: „Ich könnte zum Beispiel dem Arzt Schmiergeld zahlen und mit jeder möglichen Krankheit den Führerschein bekommen", so Trawin.
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