Leben mit Behinderung in Russland: „Nicht klagen, sondern machen“

Menschen mit Behinderung treten in Russland heute selbstbewusster auf. Foto: Alexej Kudenko/RIA Novosti

Menschen mit Behinderung treten in Russland heute selbstbewusster auf. Foto: Alexej Kudenko/RIA Novosti

2012 ratifizierte Russland die UN-Behindertenrechtskonvention. Viel getan hat sich bei der Integration behinderter Menschen seitdem nicht. Viele Betroffene versuchen daher lieber selbst, Änderungen herbeizuführen. RBTH stellt Ihnen drei Menschen vor, die ihr Leben selbst in die Hand genommen haben.

Eine wie keine

„Ich bin es gewohnt, angeschaut zu werden", sagt die 23-jährige Anastasia Abroskina, die auch während unseres Gesprächs die Blicke auf sich zieht. Sie leidet an Infantiler Zerebralparese. Das hat sie nicht davon abgehalten, Model zu werden; das erste und einzige in Russland mit dieser Diagnose. Mit 18 Jahren lud sie ohne Wissen ihrer Eltern Fotos von sich auf einer Casting-Webseite hoch und wurde zu Fotoshootings eingeladen. Für Abroskina begann damit ein neues Leben. Was sie dazu bewegt hat, Model zu werden? „Ich hatte genug von all den Barbie-Puppen als Models. Ich bin anders als die anderen und wollte neue Ideale."

Vor ihrer Modelkarriere war Abroskina eine erfolgreiche Reiterin. Sechs Medaillen gewann sie bei Paralympischen Spielen. Sie studierte an der medizinischen Fakultät der Russischen Universität der Völkerfreundschaft und setzt ihre Ausbildung an der Fakultät für Grafik und Malerei der

Staatlichen Russischen spezialisierten Kunstakademie fort. Anastasia probiert vieles aus. Auch das hängt mit ihrer Krankheit zusammen. „Schon in der Schule hieß es ständig: Du bist anders. Es wird mit dem Finger auf dich gezeigt. Irgendwann fragt man sich, wer man denn nun ist, wenn man anders ist. Dann beginnt die Erforschung der eigenen Persönlichkeit."

Abroskina findet, dass es heutzutage viel mehr Möglichkeiten gebe, Menschen mit Behinderungen in die Gesellschaft zu integrieren. Damit könne man auch nicht früh genug anfangen, am besten schon im Kindesalter, sagt sie. „Ein Kind mit einer Behinderung braucht jemanden, der es führt und ihm hilft, der auch anderen Kindern beibringt, wie sie sich verhalten sollen. Ich hatte diese Unterstützung als Kind nicht."

 

Um etwas zu bewegen, muss man nicht laufen können

Igor Gakow ist 45 Jahre alt. Er sitzt im Rollstuhl, aber das ist auch der einzige Unterschied zwischen ihm und anderen Menschen. Vielmehr scheint er so manchen sogar überlegen zu sein: Er hat gleich mehrere Ausbildungen abgeschlossen. Er studierte Marketing an einer Wirtschaftshochschule und schloss in Moskau die Britische Designhochschule ab. Über seine Behinderung verliert er nur wenige Worte: „Was soll man dazu sagen? Ich rede nicht gern darüber", sagt Gakow und legt dabei die Stirn in Falten. Er verrät lediglich, dass er 1997 erkrankte und seitdem nicht mehr laufen kann.

Igor Gakow treffen wir auf der Ausstellung „Integration. Leben. Gesellschaft. 2015" in Moskau, bei der sich alles um die Probleme von Menschen mit Behinderung dreht. Er erzählt dort den Besuchern von seinem Alltag, zum Beispiel darüber, welche Urlaubsmöglichkeiten es für Menschen, die in ihrer Mobilität eingeschränkte sind, eigentlich so gibt. Gemeinsam mit einem

Freund, der Inhaber eines Reisebüros ist, organisiert er Reisen für Menschen mit Behinderung. Ziel sind oft Länder, die auf dem Weg zur Barrierefreiheit schon vorangekommen sind.

In Russland gibt es das staatliche Programm „Barrierefreie Umgebung". Bisher wird es vor allem in den Städten umgesetzt, in denen die öffentliche Verwaltung nicht die Augen davor verschließen kann, dass auch Menschen mit eingeschränkter Mobilität aktiv am gesellschaftlichen Leben teilnehmen wollen. Doch Igor Gakow ist niemand, der darauf wartet, dass sich etwas verändert. Er ergreift oft selbst die Initiative: „An meinem Wohnort habe ich mich persönlich dafür eingesetzt, dass der Laden, in dem ich einkaufe, ein Schwimmbad und mein Arbeitsplatz barrierefrei werden. Ich glaube daran, dass ein guter Wille besser wirkt als Beschwerden." Auch Gakow findet, dass sich in den 18 Jahren, die er bereits mit seiner Behinderung lebt, vieles verändert habe. In jedem Falle sehe man inzwischen mehr Menschen mit Behinderung in der Öffentlichkeit.

 

Kunst, die berührt

„Also, meine sehenden und hörenden Freunde: Versucht nicht, Taubblindheit darzustellen. Das kann nicht funktionieren, denn man wird immer etwas darstellen, was so nicht ist. Ihr steckt nicht in unserer Haut."

Dieses und andere Zitate kann man in der Ausstellung „Kunst, die Berührt" lesen. Sie wurde im Moskauer Museum für moderne Kunst eröffnet und ist Teil des Sozial- und Kulturprojektes „Die Berührbaren". Die Ausstellung ging

dem Festival im Theater der Nationen, bei dem auch Menschen ohne Gesichts- und Hörsinn mitwirkten, voraus. Im Museum werden Fotos und Filme gezeigt, die von den Organisatoren des Projekts während der Vorbereitungen hergestellt wurden. Außerdem gibt es dort Installationen von Künstlern, die es ermöglichen, die Welt taubblinder Menschen zu erleben.

Alexei Krapuchin von der Stiftung „So-jedinenie" findet, dass deren Integration zurzeit noch unbefriedigend sei. Bis vor kurzem sei nicht einmal bekannt gewesen, wie viele taubblinde Menschen überhaupt in Russland leben. Die Stiftung weiß von mehr als 1 500. „Mir scheint, dass die moderne Kunst im Unterschied zu den traditionellen Kunstrichtungen wie Malerei oder Musik auch Taubblinde ansprechen kann. Das Ziel der Ausstellung ist es, den Leuten zu erzählen, wie Taubblinde die Welt erfahren. Wir hoffen, dass Menschen hierher kommen, die sich dafür interessieren und eventuell auch eigene Ideen zur Integration von Taubblinden einbringen", sagt Krapuchin.

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