Ljudmila Alexejewa: "An Menschenrechtlern führt kein Weg vorbei"

Ljudmila Alexejewa: "Der Menschenrechtsrat ist heute einer der wenigen Orte, an dem ein Gespräch mit staatlichen Organen möglich ist." Foto: Michail Woskresenskij/RIA Novosti

Ljudmila Alexejewa: "Der Menschenrechtsrat ist heute einer der wenigen Orte, an dem ein Gespräch mit staatlichen Organen möglich ist." Foto: Michail Woskresenskij/RIA Novosti

Die Leiterin der Moskauer Helsinki-Gruppe spricht mit RBTH über den Fall des ermordeten Oppositionellen Boris Nemzow und über die Lage der Opposition in Russland.

Sie verließen den Menschenrechtsrat beim russischen Präsidenten 2012, als seine Mitglieder zum ersten Mal in einer Internetabstimmung gewählt werden sollten. Nahezu jeder hätte damals kandidieren können. Sind Sie deswegen gegangen?

Ja, mir gefiel das nicht. Der Rat beim Präsidenten ist keine Zusammenkunft zufälliger, wenn auch sehr respektierter Personen. Unter uns waren Fachleute für Migration, Haftanstalten, für die Armee usw. Als dann der Vorschlag einging, die Ratsmitglieder im Internet zu wählen, damit alles sozusagen demokratisch läuft, wandten wir uns dagegen. Und was es vorher nie gegeben hatte: An den Sitzungen nahmen drei Mitarbeiter der präsidialen Verwaltung teil. Zwei von ihnen schwiegen, der dritte aber mischte sich ständig in die laufende Zusammensetzung des Rates ein. Dabei dürfen Staatsdiener da nicht hinein, es ist doch ein gesellschaftlicher Rat! Weder in den gesetzlichen Bestimmungen zum Ratnoch in der Ratssatzung ist vorgesehen, dass Vertreter der Regierungsorgane für den Rat kandidieren dürfen. Letztendlich sagte ich: Wenn sie sich zukünftig in unsere Arbeit auf diese Art einmischen werden, wie sie sich in die Zusammensetzung des Rats einmischen, dann passt mir das nicht.

Warum haben Sie dann beschlossen, zurückzukehren?

Es gibt immer weniger Kommunikationskanäle für einen Austausch mit den staatlichen Entscheidungsträgern. Der Menschenrechtsrat ist heute einer der wenigen Orte, an denen ein Gespräch zwischen Menschenrechtsschützern und Staatsbediensteten möglich zu sein scheint.

Womit werden Sie sich im Menschenrechtsrat beschäftigen? Es ist bekannt, dass das 2012 verabschiedete Gesetz über ausländische Agenten Sie sehr beunruhigt.

Ja, damit werde ich mich befassen. Das Gesetz ist reine Dummheit. Denn nach einer genaueren Definition des Begriffs „politische Tätigkeit" zu rufen, ist sinnlos. Weil jeder beliebigen Organisation, die ausländische Gelder erhält, potenziell der Vorwurf der Agententätigkeit anhaftet. Wie sehr wir diesen Begriff auch präzisieren, man wird alles so auslegen können, dass dieses Gesetz greifen kann. Man muss es nur wollen.

Und was schlagen Sie vor?

Wollen wir dieses Problem wirklich lösen, müssen wir die Frage nach inländischen Finanzquellen stellen. Gut wäre es, wenn Wladimir Putin an die Geschäftsleute appellierte. Bei uns gibt es viele wohlhabende Menschen, die froh wären, Geld zu geben, doch sie befürchten dadurch Nachteile für ihre Geschäfte.

NGOs stehen seit 2012 unter Druck

 

Laut NGO-Gesetz, das 2012 in Russland in Kraft trat, erwirbt jede russische Nonprofit-Organisation, die aus dem Ausland finanziell unterstützt wird, den Status eines ausländischen „Agenten“. Ihre Tätigkeiten und Finanzen werden seitdem vom Staat kontrolliert.

Die Initiative ist auf harsche Kritik gestoßen, so hat die internationale Menschenrechtsorganisation Memorial das Gesetz boykottiert. „Das liegt nicht nur daran, dass es schwer fällt, das Geld aus Russland zu bekommen, sondern dass nichts Kriminelles daran ist, durch legale ausländische Organistionen unterstützt zu werden“, sagt Oleg Orlow, Leiter von Memorial. Die Organistation wurde im Mai 2013 nach mehreren Gerichtsverfahren auf die NGO-Liste gesetzt.

In Russland existiert das Vorurteil, wonach Menschenrechtsorganisationen rein formale Institutionen sind, in dem Sinne, dass sie keinen ernstzunehmenden Einfluss auf Entscheidungsprozesse ausüben können.

Die Anfänge unserer Menschenrechtsbewegung gehen auf die Mitte der 1960er Jahre zurück. 25 Jahre lang existierte sie unter dem Sowjetregime. Wir sind reich an Erfahrung, unter uns sind viele Profis, mich selbst zähle ich auch dazu. Wenn ich das 50 Jahre lang betreibe – ich bin jetzt 87 –, dann muss ich schon ziemlich lernresistent sein, um mirdiese Tätigkeit nicht angeeignet zu haben! Daher würde ich nicht behaupten, wir hätten gar keinen Einfluss. Man muss mit uns rechnen.

Drei Monate sind bereits vergangen, seitdem die Ermittlungen im Mordfall des Oppositionellen Boris Nemzow aufgenommen wurden. Er wurde in Moskau in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar erschossen. Sie zweifelten von Anfang an, dass die Drahtzieher gefunden werden. Hat sich Ihre Meinung geändert?

Wenn man es bislang nicht mal schaffte, Ruslan Geremjew zu befragen ... Er scheint ja die Vermittlerrolle zwischen den Hintermännern und den Auftragskillern übernommen zu haben. Geremjew hält sich in Tschetschenien auf und entzieht sich dem Zugriff der Ermittler. Am meisten deutet aber die Tatsache, dass der Hauptermittler ausgewechselt wurde, darauf, dass man sich mit den Vollstreckern zufriedengibt, der Strippenzieher aber unbehelligt bleibt. Sein Vorgänger Igor Krasnow hat anhand früherer Fälle bewiesen, dass er ein Meister seines Faches ist und frei von politischen Überlegungen agieren kann. Also wurde er durch Nikolai Tutewitsch ersetzt, der seinen Vorgesetzten hörig ist. Ich denke, das ist ein sehr schlechtes Zeichen.

Warum sind Sie sich so sicher, dass er den Vorgesetzten hörig ist?

Weil schon seine Ermittlungen im Fall von 2008 ins Leere liefen [gemeint ist der Mord an Ruslan Jamadajew, dem ehemaligen Kommandeur des tschetschenischen Sonderbataillons „Wostok" vom Aufklärungsdienst des Generalstabs. Drei der am Anschlag Beteiligten erhielten Haftstrafen, doch die Hintermänner wurden bis heute nicht gefunden].

Es gibt da noch ein weiteres Problemthema, das Sie seit Ende der 1960er Jahre beobachten. Ich meine die Lage der Krimtataren. Wie sehen Sie das heute?

Einerseits sehe ich, dass der Präsident seine Zusagen einhält, die er Mustafa Dschemilew [Medschlis-Vorsitzender bis Herbst 2013] machte, als dieser in Moskau zu Besuch war. Er versprach unter anderem, dass die krimtatarische Sprache weiträumige Verbreitung finden und es krimtatarische Schulen geben wird. Das ist soweit auch durchgesetzt. Andererseits wird derselbe Dschemilew daran gehindert, aus Kiew auf die Krim zu kommen. An der Rückreise gehindert wird auch der jetzige Medschlis-Vorsitzende Refat Tschubarow, der die Halbinsel für nur wenige Tage verließ. Üblicherweise versammelten sie sich am 18. Mai, dem Tag der Deportation der Krimtataren während des Zeiten Weltkriegs 1944, auf dem zentralen Platz der Stadt Simferopol. Dort fand eine riesige Gedenkfeier statt. Die ist jetzt untersagt und wurde stattdessden auf irgendeinen muslimischen Friedhof verlegt. Das heißt: Auf der Krim gibt es für die Tataren keine Versammlungsfreiheit.

Ljudmila Alexejewa wurde 1927 in Eupatoria (Krim, UdSSR) geboren. Als Menschenrechtlerin trat sie erstmalig in Erscheinung, als sie gegen die politischen Gerichtsprozesse von 1966 protestierte. Deswegen wurde sie aus der KPdSU ausgeschlossen. 1976 gründet Alexejewa zusammen mit anderen Aktivisten die Moskauer Helsinki-Gruppe, doch schon 1977 emigrierte sie in die USA. Erst 1993 kehrte sie nach Moskau zurück. Alexejewa verfasste Hunderte Broschüren und Artikel zum Thema Menschenrechte und wurde für ihre Tätigkeit vielfach ausgezeichnet, z.B. mit dem französischen Orden der Ehrenlegion (2007) und mit dem deutschen Bundesverdienstkreuz (2009).

2016 werden Parlamentswahlen abgehalten. Die Opposition erklärte bereits ihre Absicht, daran teilzunehmen, und schmiedete dafür sogar eine Demokratische Koalition. Sie kennen viele dieser Menschen. Wie würden Sie ihre politische Kraft einschätzen?

Dieser Versuch einer Koalition ist ein kolossaler Durchbruch. Das gab es bislang nicht. Es war ja überall zu hören: „Was sie wirklich beherrschen, sind eitle Grabenkämpfe." Doch so ist es nicht ganz. Ihre Eitelkeit ist nicht das Problem, sondern dass unsere Gesellschaft keine politische Kultur kennt. Die Ursachen hierfür liegen auf der Hand. Zu langegab es im Land keine Möglichkeit zum politischen Streit.

Ist die mangelnde politische Kultur das zentrale Problem der Opposition?

Nein, das zentrale Problem ist, dass die Opposition mit Bedingungen konfrontiert wird, unter denen sie nicht handeln kann. Ihre Anführer lässt man nicht ins Fernsehen. Doch unser modernes Leben ist nun mal so geschaffen, dass ein Mensch scheinbar gar nicht existiert, wenn es ihn im Fernsehen nicht gibt. Oder jetzt spekuliert man darüber, die Parlamentswahlen von Dezember auf September 2016 zu verlegen. Dabei ist doch klar, warum es September sein soll: Der ganze Wahlkampf läuft dann im Sommer, wenn die Menschen weg sind, und die Wahlbeteiligung fällt niedrig aus.

Der Opposition wird oftmals vorgeworfen, ihr fehle eine Führungspersönlichkeit, jemand, dem die Menschen folgen würden. Alexej Nawalny ist zweifach verurteil und auf Bewährung frei. Sergej Udalzow wurde vor Kurzem in einer Strafkolonie inhaftiert, er verbüßt eine Haftstrafe wegen der Organisation von Massenunruhen bei einer Kundgebung 2012. Boris Nemzow ist tot. Sehen Sie eine solche Führungspersönlichkeit?

Ich bin keine Politikerin. Und Mitglied der Opposition bin ich auch nicht. Für mich ist es schwierig zu urteilen. Doch Menschen, die es könnten ... Wladimir Ryschkow. Er war lange in der Staatsduma und wäre ein hervorragender Parlamentspräsident. Aber im Augenblick ist er im Nirgendwo. Oder Michail Kasjanow, Mitvorsitzender der Partei RPR-PARNAS, der einer der besten Minister der Jelzin-Ära und auch noch während der Präsidentschaft Wladimir Putins war. Der Ex-Finanzminister Alexej Kudrin...

Und Michail Chodorkowski?

Ein sehr kompetenter Mensch! Er wäre ganz bestimmt äußerst hilfreich.

Was macht er dann im Ausland? Einige beschuldigen ihn der Flucht.

Nein, eine Flucht ist das nicht. Im Gegenteil, er würde sehr gern zurückkehren. Ihn ins Ausland zu lassen, war ein cleverer Schachzug mit dem Hintergedanken: Da soll er auch bleiben. Doch wenn man ihn nur dazu aufriefe, irgendwie zu helfen, er würde kommen, da bin ich sicher. Als Mensch kenne ich ihn einfach zu gut.

Sie haben 16 Jahre in den USA gelebt, sind im Besitz der amerikanischen Staatsbürgerschaft. Warum sind Sie nach Russland zurückgekehrt?

Als nicht nur mir, sondern auch meinem Sohn und meinem Ehemann in Russland die Verhaftung drohte – obwohl sie keine Menschenrechtler waren –, war ich gezwungen auszureisen. Ich ging nach Amerika und kehrte Anfang der Neunziger hierher zurück. Viele ließ man zuvor schon hinein, mich aber nicht – ich stand auf der Schwarzen Liste des KGB. Aus meiner amerikanischen Staatsbürgerschaft habe ich nie ein Hehl gemacht. In die USA gehe ich niemals mehr, doch seinerzeit hat man mich freundlich aufgenommen. Dort habe ich all die Jahre ein normales Leben führen können, das ich hier im Lager abgesessen hätte. Zurückgekehrt bin ich, weil Russland mein Land ist. Und ich will in diesem Land leben.

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