Russland-Reise für Behinderte: "Versuch' es, aber du musst fit sein"

Barrierefreies Reisen steckt in Russland noch in den Kinderschuhen. Foto: Alexander Petrosjan/Focus Pictures

Barrierefreies Reisen steckt in Russland noch in den Kinderschuhen. Foto: Alexander Petrosjan/Focus Pictures

Russland ist nach europäischen Maßstäben kaum barrierefrei. Touristen mit Behinderung haben sich dennoch auf den Weg gemacht. Und sie würden es wieder tun.

„Warum möchte ein Blinder überhaupt schwimmen?" Die Frage einer Schimmbadmitarbeiterin lässt noch immer die Empörung in Katja Pirogowa hochsteigen. Die Petersburgerin betreut gelegentlich deutsche Touristen mit eingeschränkten Fähigkeiten und stößt des Öfteren auf verschlossene Türen. Diesmal war es ein öffentliches Bad. „Wir standen davor und wurden einfach nicht hineingelassen", erzählt Pirogowa. „Erst nach langem Diskutieren und unzähligen Formularen durften wir doch noch hinein. Meinen Pass musste ich aber als Pfand hinterlassen, für den Fall, dass mein Freund, der blinde deutsche Tourist, ertrinkt."

Russland gilt als ein Land, das für Menschen mit Behinderung nur selten ein Genuss ist. Andreas Pröve, Buchautor und Abenteurer, der mit seinem Rollstuhl die ganze Welt bereist hat, sieht das allerdings gelassen: „Russland ist ein gut entwickeltes Land", sagt er. „Wenn ich zum Beispiel an Indien denke, wo die Menschen ganz andere Sorgen haben, als ihr Land rollstuhlgerecht auszubauen, dann haben es die Russen doch vergleichsweise gut." Pröve war mit der Transsibirischen Eisenbahn schon zu Zeiten unterwegs, als es noch keine rollstuhlgeeigneten Waggons gab. „Bis auf die Toilettenbesuche war alles in Ordnung", erzählt er heute. „An den Haltestellen stand ich an der Tür und versuchte, mit Zeichen um Hilfe zu bitten, da ich kein Russisch konnte. Und immer gab es jemanden, der geholfen hat. Dieses soziale Verhalten verbindet die Menschen auf der ganzen Welt."

„Die Russen sind hilfsbereit", bestätigt auch Lydia Grabowski, die mit ihrem Mann Wolfgang Gruppenreisen für Rollstuhlfahrer um die ganze Welt organisiert. Oft hapert es an Details. „Mittlerweile gibt es in der Transsib zwar Waggons für Rollstuhlfahrer, aber keine Übernachtungsmöglichkeiten. Das heißt, man muss ständig den Zug verlassen und in Hotels unterkommen. Diese Unterbrechungen nerven." Grabowski schwärmt von den eingelegten Gurken und Pelmenis in Sankt 
Petersburg. Die Stadt sei für Rollstuhlfahrer viel besser ausgebaut als Moskau. Beispielsweise gebe es dort barrierefreie Ausflugsboote. Die Metro allerdings sei in beiden Städten völlig ungeeignet für Behinderte.


Falsches Mitleid

„Als ich meinem blinden deutschen Freund den Newski-Prospekt zeigte, sprach uns eine alte Dame an", berichtet Katja Pirogowa weiter. „Sie holte aus ihrem Portemonnaie verknitterte Rubelscheine heraus und wollte das Geld meinem Freund geben. Die Möglichkeit, dass er als Blinder ja auch ein reicher Mann sein konnte, kam ihr nicht in den Sinn." Die alte Dame lud den Deutschen sogar als Gast in ihre bescheidene Wohnung ein. Die Infrastruktur von Sankt Petersburg sei für Besucher mit eingeschränkter Sehfähigkeit nur bedingt geeignet. Die Warmherzigkeit und die Empathie der Stadtbewohner haben den deutschen Gast aber überzeugt.

„Wenn ich überlege, ob ich einem Rollstuhlfahrer als Alleinreisenden eine Tour nach Russland ans Herz legen kann, würde ich sagen: Versuch' es, aber du musst fit sein", meint der Abenteurer Andreas Pröve.

Rollstuhlfahrer besuchen das Russische Museum in Sankt Petersburg. Foto: Ruslan Schamukow/TASS

Bei Lydia Grabowskis Gruppenreisen ist der Ablauf gut eingespielt. Sie lobt die Organisation der Ankunft mit dem Schiff im Hafen von Sankt Petersburg. Auch die Reise von Sankt Petersburg nach Moskau mit modernen Zügen 
klappe einwandfrei. „Alles, was in Russland renoviert oder neu gebaut ist, ist für uns super geeignet", unterstreicht Grabowski. Ob beim Bolschoi-Theater in Moskau oder beim Mariinski-Theater in Sankt Petersburg – man spüre, dass die Russen sich Mühe geben. „In Sankt Petersburg ließ man uns mit den Rollstuhlfahrern für einen kleinen Aufpreis in die Zarenloge, zu der wir mit einem Aufzug gelangten."

Der Kreis der Firmen, die Reisen nach Russland organisieren, ist recht überschaubar. Die meisten Aufträge erhält das Reisebüro Liberty in Sankt Petersburg. Die 
Leiterinnen Marija Bondar und Natalja Gasparjan haben sich einen Namen in Deutschland gemacht. Wenn in Russland wieder einmal an einer Verbesserung der Infrastruktur für Rollstuhlfahrer gearbeitet wird, ist es nicht selten der Energie dieser beiden Frauen zu verdanken.

Egal, ob man als Einzeltourist oder Gruppenreisender nach Russland kommt, man trifft vor allem gute Menschen. Dafür gewisse Abstriche beim Komfort in Kauf zu nehmen, ist eine Entscheidung, die jeder für sich treffen muss.

Mehr zum Thema:

Leben mit Behinderung in Russland: „Nicht klagen, sondern machen"

Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland

Diese Webseite benutzt Cookies. Mehr Informationen finden Sie hier! Weiterlesen!

OK!