Paul Linke mit seinem Band "MirMix Orcheztran". Foto aus dem persönlichen Archiv
Berlin, Jannowitzbrücke. Hinter einer großen, bunten Tür eines S-Bahnbogens befindet sich das „Hangar 49": ein Club und Begegnungsort verschiedener Kulturkreise. Abends wird es voll und heiß – eine bekannte georgische Band spielt heute. Aber noch ist es früher Nachmittag und ruhig. Ich klopfe drei Mal laut. Ein großer Mann mit einem ausgefallenen Bart macht die Tür auf und begrüßt mich herzlich. Das ist Paul, der Besitzer. In der Berliner Musikszene bekannt als DJ Interpaul und Frontmann der Band MirMix Orcheztran. Unter seinen unzähligen russischen Freunden kennt man ihn jedoch als Pascha.
Pascha geht hinter die Bar und bietet gleich ein breites Getränkespektrum an – ich wähle einen Tee. Er nimmt den Besen, um die Spuren des Vorabends, einer Jamsession, zu beseitigen. Vormittags arbeitet er als Tontechniker bei einem Radiosender, danach kommt er in den Hangar und kümmert sich abwechselnd mit seinem Partner um Booking, Plakate, Flyer. Apropos Plakate: Betritt man den gemütlichen Raum, genügt ein Blick an die Wand, um zu erfahren, wer hier schon auf der Bühne mit rotem Samtvorhang stand: Die größten Namen der russischen Alternativszene sind da zu lesen, berühmte Balkanbands und ukrainische Musikgrößen bis hin zu lokalen Bands, großen und kleinen. Newcomer sind nämlich auch gern gesehen.
Das „Hangar 49" gibt es seit sechs Jahren, genauso lange lebt Paul auch in Berlin. Davor versuchte er einige Jahre, in die Fußstapfen des Vaters zu treten und das Leben eines Ingenieurs zu führen. Nach dem Schulabschluss in einer Kleinstadt in Süddeutschland machte er eine Ausbildung zum Mechatroniker. „Obwohl ich damals Keyboarder in einer Metal-Band mit langen Haaren war und Rockstar werden wollte", lacht Paul und streicht sich über seine Kappe. Übrigens eine besondere Kappe – sie stammt aus Kirgisistan, seiner Heimat.
1984 wurde er in der Hauptstadt Frunse, heute Bischkek, in einer Ingenieursfamilie mit deutschen Wurzeln geboren. Paul war gerade drei, da zog die Familie ins tiefste Sibirien nach Nowyj-Urengoj, Hauptstadt der russischen Gasförderung. Für die Arbeit in der sehr nördlich gelegenen Region erhielt der Vater einen guten Zuschuss zu seinem Gehalt. Nach drei Jahren kehrte die Familie ins sonnige Kirgisien zurück und investierte ihr hart verdientes Geld in einen Saporoschez (ein sowjetisches Auto, Anm. d. Red.). Dann kam der Zerfall der UdSSR mit dem Staatsbankrott, das Geld verlor seinen Wert. Frunse wurde zu Bischkek und kriminell. „Und rassistisch. Meine Familie wurde immer häufiger als Deutsche und gleichzeitig als Russen beschimpft", erinnert sich Paul. Als dann der Lebensgefährte der Uroma im eigenen Haus nachts ermordet wurde, beschloss die Familie, nach Deutschland auszuwandern. „Wir hatten vorher nie darüber nachgedacht, Kirgisien, unsere Heimat, zu verlassen. Aber ich habe mich trotzdem gefreut. Denn ich wusste, in Deutschland gibt es tolle Kaugummis", scherzt Pascha.
Im Januar 1994 kam die Familie Linke in Hannover an – mit Omas, Kusinen, Tanten, Geschwistern, insgesamt 15 Personen. Und jeder mit einem Koffer, darin das Nötigste. „Wir haben unzählige Videokassetten mit sowjetischem Kino oder Popmusik mitgenommen, damit wir die russische Kultur nicht vergessen. Und wir haben uns vor der Abreise auf dem Markt die besten Klamotten gekauft, die es in Bischkek gab. Wir dachten, so fallen wir in Deutschland nicht gleich als Ausländer auf", erzählt Pascha.
Paul "Pasha" Linke: Das Ziel ist, dass sich im ‚Hangar 49' grenzübergreifend alle treffen: Russen, Ukrainer, Georgier, Italiener, Bulgaren, Deutsche, egal wer. Foto aus dem persönlichen Archiv
Doch sie fielen auf. Sie lebten zunächst im Heim für Aussiedler bei Berlin, Paul ging in die Grundschule im nächsten Dorf und war auf einmal nur noch „der Russe". Auch wenn Paul sehr schnell Deutsch lernte. Das Leben in großen Kasernen mit vielen anderen Asylbewerbern zusammen war nicht einfach, dafür fand Pascha hier die ersten Freunde in Deutschland. Knapp ein Jahr später zog die Familie endlich in eine Wohnung – nach Marzahn, bevor es Jahre darauf in den Süden ging.
Paul stellt den Besen zur Seite und nimmt seinen Tabak aus der Hosentasche. Wenn man den charismatischen jungen Mann so sieht, mit seinen lebhaften blauen Augen, gut angezogen, lässig rauchend im eigenen Club, würde man nicht denken, dass er aus eigener Erfahrung weiß, was Asyl heißt. „Ich bin froh, diese Erfahrung zu haben, diesen Weg eines Deutschrussen gegangen zu sein. Ich habe vieles gesehen und gelernt", sagt Paul, während er Musik anmacht. Aus den Lautsprechern ertönt seine Stimme, die singt: „Mixing cultures is great, mix tastes always better ..." Der MirMix-Song, erfahre ich. Genau das ist Pauls Lebensmotto und die Hauptaufgabe des Clubs: Kulturen zu vermischen.
„Das Ziel ist, dass sich im ‚Hangar 49' grenzübergreifend alle treffen: Russen, Ukrainer, Georgier, Italiener, Bulgaren, Deutsche, egal wer. Nur so kann man Vorurteile und Klischees abbauen und Spaß haben", erklärt Pascha. Er selbst trägt drei Kulturen in sich: Paul kocht Plow wie ein echter Kirgise, kennt alle russischen Volkslieder wie ein Russe und spricht akzentfrei Deutsch. Er fühlt sich in Deutschland wie ein Fisch im Wasser, sagt er. Das schafft nicht jeder. „Hangar 49" ist so auch eine Art Integrationshilfe, hört man sich unter den gerade erst aus Russland eingewanderten jungen Leuten um. Sie treffen hier auf Berliner ebenso wie auf Deutschlandrussen der Migrationswelle der Neunzigerjahre. Welten, die im „Hangar" aufeinanderprallen, liegen sich hier alle friedlich in den Armen. In Paschas großen Armen.
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