Victory-Zeichen und T-Shirt signalisieren: "Die Topol hat keine Angst vor Sanktionen". Foto: RIA Novosti/Ekaterina Chesnokova
Lediglich 20 Prozent der Russen wären bereit, gegenüber dem Westen Zugeständnisse zu machen, um den Sanktionen zu entgehen. 70 Prozent der Russen sind dagegen der Meinung, dass ihr Land auf keinen Fall nachgeben sollte. Das hat eine Umfrage des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum aus dem Juni ergeben. Ein Drittel der Bevölkerung sei direkt von den Sanktionen betroffen, sagen die Soziologen. Auf die Ratings von Wladimir Putin hat das jedoch keinen Einfluss. Er konnte unlängst wieder einen rekordverdächtigen Wert von 89 Prozent erzielen.
Die Zahlen jener, die dem derzeitigen Kurs des Landes – die Sanktionen des Westens zu ignorieren – zustimmen, sowie jener, die glauben, dass Russland die bisherige Politik hinsichtlich des Südostens der Ukraine und der Krim aufrechterhalten müsse, sind stabil. Seit Januar sind die entsprechenden Umfragewerte lediglich um einen Prozent gestiegen und seit September 2014 um nur zwei Prozent. Gleichgeblieben ist auch die Zahl derer, die sich für Bemühungen um einen Kompromiss aussprechen.
Dahingegen wächst in der Bevölkerung die Angst vor der Zukunft, Furcht vor einem militärischen Einsatz sowie allgemeine Verunsicherung, wie Natalija Sorkaja, Leiterin der Abteilung für sozialpolitische Studien am Lewada Zentrum, erklärt. „Das lässt sich auch anhand anderer Studien, die wir durchgeführt haben, feststellen. Dabei äußerten über 60 Prozent der Befragten, dass sie Angst vor der Zukunft hätten“, sagt sie. Gerade deswegen seien die Menschen auch „absolut dagegen, etwas in Russland zu verändern“. Diese Angst führt nach Ansicht der Lewada-Soziologin zudem dazu, dass die Verantwortung „nach oben“ weitergereicht wird.
Die Rechnung des Westens ist nicht aufgegangen
„Das ist wie die Reaktion des Straußes, der seinen Kopf bei Gefahr einfach in den Sand steckt. Die Menschen überlassen das Denken dem Präsidenten“, erklärt Konstantin Kalatschew, Leiter einer unabhängigen Gruppe von Politikexperten. Kein Wunder: „Bis dato wurde er allen Erwartungen der Bevölkerung gerecht. In den Jahren seiner Amtszeit wuchs der materielle Wohlstand und das Land konnte wieder neue, alte Territorien dazugewinnen“, erläutert Kalatschew.
Auch Leonid Poljakow, ein kremlnaher Professor am Institut für Politikwissenschaften, bestätigt diesen Trend in der russischen Bevölkerung. Er meint, dass die Sanktionen gegen Russland, mit denen der Westen das Vertrauen der Bevölkerung in Wladimir Putins Politik zu untergraben versuchte, im Endeffekt nur das Gegenteil bewirkt hätten: Die Russen schenken dem Staatsoberhaupt nun noch mehr Vertrauen. „All das geschieht zudem ungeachtet dessen, dass ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung die Auswirkungen der westlichen Sanktionen bereits spürt“, fügt Poljakow hinzu.
Natürlich gelinge es derzeit noch, für die Wirtschaftskrise den Westen verantwortlich zu machen. Doch der „normale Bürger leidet nicht unter den Sanktionen, sondern unter den Gegensanktionen“, ist Michail Korostikow, Analyst am unabhängigen soziologischen Zentrum Laboratorija Kryschtanowskoj, überzeugt. „Aber wahrscheinlich wurde diese Grenze in den Köpfen der Menschen aufgehoben, weshalb sie gerade deshalb die harte Linie befürworten“, erklärt er.
Man dürfe nicht außer Acht lassen, so der Experte weiter, dass über 70 Prozent der russischen Bürger keinen Auslandsreisepass haben und ungefähr genauso viele keine Ersparnisse. Somit hat sie die Entwertung des Rubels gar nicht getroffen. Der Wunsch nach Vergeltung – 38 Prozent der Befragten befürworten harte Gegensanktionen – sei deshalb in Zusammenhang mit dem aktuellen Russland-Bild, das im Westen vorherrscht, zu sehen: „Derzeit wird Russland auf eine Stufe gestellt mit dem Islamischen Staat und der Ebola-Epidemie. Das muss das russische Volk ja verärgern. Daher wird auch eine entsprechende Gegenreaktion als durchaus angemessen erachtet“, meint Michail Korostikow.
Experten raten ohnehin dazu, die aktuellen Umfrageergebnisse nicht überzubewerten. Viel Aussagekraft hätte es nicht, dass 70 Prozent der russischen Bürger kein Einknicken gegenüber dem Westen befürworten würden. Denn es handele sich lediglich um eine quantitative Studie, wie Kalatschew zu bedenken gibt. Die russischen Bürger hätten auf Fragen zur Beibehaltung des derzeitigen politischen Kurses mit „Ja“, „Nein“ oder „Weiß nicht“ geantwortet. „Würde man aber dieselben Menschen noch einmal dazu befragen, was sie darüber denken, wenn es in Russland beispielsweise keine japanischen Windeln oder keine deutschen Medikamente mehr geben würde, dann wäre das Ergebnis ein ganz anderes“, glaubt Kalatschew. „Im Prinzip erfährt man durch die Umfrage nicht die öffentliche Meinung. Es spiegelt eher das wider, was die Menschen in letzter Zeit im Fernsehen gesehen haben“, meint er.
Zeit für Reformen?
Der russische Präsident jedenfalls genießt einen Vertrauensvorschuss in der Bevölkerung. „Auch wenn der Präsident nicht alle Erwartungen erfüllen kann, wird sein Rating nicht einbrechen. Solange der Vergleich zwischen Putin und Jelzin im Hinblick auf die Lage in den 1990er-Jahren noch lebt, gibt es keinen Grund, sich Sorgen zu machen“, sagt Kalatschew.
Putins Polster sei dick genug, um auch politische Manöver, wie etwa unangenehme Reformen, anzugehen, denkt Poljakow. Dazu zählen beispielsweise die Anhebung des Renteneintrittsalters oder eine härtere Politik im Hinblick auf Staatsmonopole. „Ein hohes Rating für Putin ist der Moment für Reformen“, hörte man schon des Öfteren, unter anderem von Aleksandr Bretschalow, Vize-Vorsitzender der Russischen Gesellschaftskammer, einer 2011 von Wladimir Putin gegründeten politischen Einrichtung, oder von Aleksej Kudrin, ehemaliger russischer Finanzminister.
Doch will die Bevölkerung überhaupt Reformen? Nein, meinen die Experten. „Die russischen Bürger machen Gespräche über Reformen nervös. Sie haben Angst vor einer neuen Perestroika“, sagt Kalatschew und fügt hinzu: „In Putins Amtszeit lautet das Schlüsselwort Stabilität. Die Bevölkerung erwartet keine Reformen von Putin. Das Wichtigste ist, dass die Lage nicht schlimmer wird.“
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