Nicht wer verfasst, sondern wer verbreitet, wird strafrechtlich belangt.
Ingimage / Vostock-photoJekaterina Wologschenowa teilte in einem sozialen Netzwerk eine Karikatur, darauf zu sehen: ein Soldat – offenbar uniformiert als Rotarmist –, der sich mit einem Messer über eine Donbass-Karte beugt. Eine Hand versucht, den Soldaten aufzuhalten, darüber steht: „Stoppt die Pest!“. Womit die 46-jährige alleinerziehende Mutter sicher nicht gerechnet hat, war der Staat, der ihr Handeln mit voller Härte ahndete: Am 20. Februar wurde sie zu 320 Stunden Besserungsarbeit verurteilt, ihr Notebook nach richterlicher Anordnung vernichtet.
Solche Schicksale sind in letzter Zeit in Russland keine Seltenheit. Ein ganzes Paket von Gesetzen bestraft das Schüren von Hass oder Feindseligkeit sowie Aufrufe zu Gewalt und terroristischen Aktivitäten. Der Extremismus im Internet ist dabei nur einer von vielen Straftatbeständen. Aber eben diese Strafverfahren stoßen in der Bevölkerung und in der liberalen Presse auf Kritik.
In den vergangenen fünf Jahren stieg die Zahl der Verurteilungen wegen Extremismus im Internet um fast das Fünffache. Wurden 2011 auf der Grundlage dieses Straftatbestands 82 Verfahren eingeleitet, waren es im Jahr 2015 nach Angaben des Zentrums für wirtschaftliche und politische Reformen (ZEPR) bereits 369.
Der sprunghafte Anstieg der Verfahren ist vor allem auf Änderungen am Extremismus-Gesetz im Jahr 2014 zurückzuführen. Der Gesetzgeber versuchte damals, gesetzliche Lücken zu schließen, die es „Extremisten“ ermöglichten, sich der Verantwortung für ihre Aussagen im Internet zu entziehen. Als öffentlich – und nur in diesem Fall konnte eine Person gerichtlich belangt werden – galt eine solche Aussage, wenn sie in einem offiziell registrierten Medium veröffentlicht wurde. Twitter-Accounts und Blogs, selbst wenn diese viele Tausend Abonnenten vorweisen konnten, wurden nicht der Medienöffentlichkeit zugerechnet.
„Es ist an der Zeit, hier neue Regelungen einzuführen, nicht zuletzt angesichts der ‚Digitalisierung‘ der russischen Gesellschaft“, erklärten deshalb einige Abgeordnete in ihren Erläuterungen zur Gesetzesnovelle. Sie stellten mit ihrer Initiative faktisch beliebige Aussagen im Internet Veröffentlichungen in den Medien gleich.Auf Jugendliche bis 25 Jahre, die aktivsten Nutzer sozialer Netzwerke, entfallen seitdem mehr als die Hälfte der einschlägigen Straftaten. Der Großteil der Verurteilten hätte sich bis dahin dem ZEPR zufolge unauffällig verhalten. „Gegenstand der Verfahren sind hauptsächlich rassistische Äußerungen, zum Beispiel kurze Videos mit Aufrufen zu Übergriffen auf Migranten“, erläutert Alexander Werchowski, Leiter der Nichtregierungsorganisation Sowa, die sich gegen Fremdenfeindlichkeit engagiert.
Die zweithäufigsten Gründe für die Einleitung von Strafverfahren sind Aufrufe zum Dschihad oder zur Unterstützung einer in Russland verbotenen Organisation wie des sogenannten „Islamischen Staats“. Mit großem Abstand folgen diskriminierende Aussagen, die nicht mit bestimmten Aufrufen verbunden sind. Seit Frühjahr 2014 gibt es zudem die gesonderte Kategorie der „separatistischen“ Verfahren, die mit den Ereignissen in der Ukraine zusammenhängen.
Im Mai dieses Jahres wurde Andrei Bubejew, ein Ingenieur aus Twer, wegen Teilens zweier Beiträge zu zwei Jahren und drei Monaten Arbeitslager verurteilt. Bei dem einen handelte es sich um einen Artikel mit dem Titel „Die Krim gehört zur Ukraine“. Der zweite war die Abbildung einer Zahnpastatube mit der Unterschrift „Russland ausdrücken“. Die von ihm in Vkontakte, dem größten sozialen Netzwerk Russlands, geteilten Beiträge nahmen lediglich zwölf Freunde zur Kenntnis. Drei von ihnen gehörten zu seiner Familie, die übrigen interessierten sich vor allem für japanische Animes.
Das russische Gerichtssystem schenkt solchen Dingen jedoch kaum Beachtung, wie Menschenrechtler Werchowski kritisiert. „Auf die Anzahl der Personen, die ein solcher Beitrag erreicht, kommt es nicht an“, entgegnet der ehemalige Oberleutnant des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB und heutige Vorsitzende des Nationalen Antikorruptionskomitees Kirill Kabanow.Er erklärt die Logik der Strafverfolgungsbehörden: „Es genügt ein Mensch mit instabiler Psyche, der sich auf den Weg machen und zum Gewaltverbrecher werden kann.“ Deshalb sei bereits eine einzelne Straftat schwerwiegend und stelle keinen mildernden Umstand dar. „Wenn nur ein Totschlag die Folge ist, nur ein einziger – und sei er auch nur eine Verkettung unglücklicher Zufälle –, dann ist eine Verurteilung berechtigt“, meint Kabanow.
Die wohl strittigste Besonderheit des russischen Systems ist, dass die Verbreitung extremistischer Inhalte, nicht aber deren Erstellung bestraft wird. „Es gibt keine Rechtsvorschrift, die sich auf das Verfassen von Inhalten bezieht. Ruft jemand zu Völkermord und Rassismus auf, betitelt das Ganze als ‚Mein Kampf‘ und bittet danach einen Freund, das zu verbreiten, so macht sich nach russischem Recht der Freund strafbar“, erklärt Matwej Zsen, Rechtsanwalt und Experte für antiextremistische Gesetzgebung. Doch auch hier ist die Gesetzeslage paradox: Dutzende und Hunderte Personen können einen Eintrag teilen, bestraft aber wird ein Einzelner.
Dabei sind nach Angaben des Sowa-Zentrums lediglich zehn Prozent solcher Urteile als unrechtmäßig einzustufen. „Die übrigen 90 Prozent werden von dem Gesetz erfasst“, sagt Werchowski, der aber hinzufügt: „Wären wir nicht in Russland, sondern in Frankreich oder in Deutschland, gäbe es die Mehrzahl dieser Verfahren überhaupt nicht.“ Eine strafrechtliche Verfolgung ist in Europa gefährlicheren, extremistischen Taten vorbehalten. In Russland gilt bereits allein die Absicht als Gefahr, wie Werchowski erläutert.
Die Organisation hält den Anstieg der Strafverfahren wegen Extremismus im Internet für besorgniserregend. Zumal sie eine simple Erklärung dafür hat: Die Statistik weise auf ein betriebswirtschaftlich ausgerichtetes Verfahren der Behörden hin. Auch Rechtsanwalt Zsen ist davon überzeugt. „Zweigstellen des Zentrums für Extremismusbekämpfung gibt es in jeder Region, in Moskau in jedem Bezirk. Deren Mitarbeiter orientieren sich an monatlichen Leistungskennzahlen hinsichtlich der Verurteilung von Extremisten“, erläutert der Jurist.
„Tatsächliche Versuche, die Gesellschaft zu destabilisieren, und das schlichte Teilen von Beiträgen werden gleich gewichtet. Die Ermittler suchen die ‚Straftäter‘ aus ihrem Bezirk also einfach über Vkontakte“, sagt Zsen. Am Ende scheint also eine absurde Bürokratie schuld zu sein.
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