Exakte Zahlen über Ein- und Auswanderung lassen sich kaum erheben.
Artyom Geodakyan/TASSDie Zahl der Auswanderer aus Russland sei in den letzten fünf Jahren deutlich gestiegen, heißt es in einem Bericht des Komitees für Zivilinitiativen, einem liberalen Think Tank des ehemaligen russischen Finanzministers Alexej Kudrin. Demnach hätten zwischen 500 000 und 600 000 Russen ihre Heimat in Richtung Westeuropa, Israel und USA verlassen. Die meisten Auswanderer seien gut ausgebildete Menschen, was für Russland ernsthafte „Verluste des demografischen, sozio-wirtschaftlichen und intellektuellen Kapitals“ bedeute, schreiben die Autoren des Berichts.
Ein weiterer Punkt, auf den die Experten der Denkfabrik aufmerksam machen: Die amtliche Migrationsstatistik färbe den Ernst der Lage schön. Die offiziellen Zahlen betrügen lediglich ein Viertel bis ein Drittel der tatsächlichen Anzahl an Auswanderern. Dass die offiziellen Zahlen zu niedrig sind, bezweifeln Experten größtenteils nicht. Sie führen dies auf Schwierigkeiten bei der Erhebung exakter Daten zurück.
Doch trotz der Unstimmigkeiten spiegelt die amtliche Statistik die Entwicklung der Migration wider: „Man kann nicht behaupten, dass sich der Auswanderungstrend schlagartig verändert hat“, erklärt Wladimir Mukomel vom Institut für Soziologie der Russischen Akademie der Wissenschaften. „Trotz allem stellt die Statistik wenn nicht das Ausmaß so doch die Entwicklung dieses Prozesses dar.“
Das Komitee für Zivilinitiativen schätzt die Zahl der Menschen mit „starken Auswanderungsneigungen“ auf acht bis 23 Prozent. „Von einer Zunahme von Migrationsbestrebungen kann nur bei Teilen einer Gruppe der russischen Gesellschaft die Rede sein: bei Jugendlichen“, sagt der Soziologe Mukomel. Grund dafür seien die Vorstellungen junger Menschen über die Ungerechtigkeit der russischen Gesellschaft und fehlender Entwicklungsperspektiven aufgrund unzureichender sozialer Mobilität.
Unter den Emigranten gebe es gut ausgebildete Erwachsene im Alter zwischen 30 und 45 Jahren – auch wenn ihre Zahl ebenfalls schwer festzustellen sei, sagt Ledenewa. Sie würden Russland größtenteils aus wirtschaftlichen Gründen verlassen: niedrige Löhne, hohe Steuern, Korruption. Auch die Wirtschaftskrise der letzten Jahre spiele eine Rolle. Die russischen Auswanderer wollten vor allem nach Westeuropa, Israel und die Vereinigten Staaten. Besonders beliebt sei die Bundesrepublik. Inzwischen zählten auch exotische Zielländer zu den Favoriten der Russen: Australien und Neuseeland seien hoch im Kurs, sagen die Experten.
Indes zeichne sich auch ein umgekehrter Trend ab: Langsam kehren jene Russen zurück, die das Land nach dem Zerfall der Sowjetunion Anfang der 1990er-Jahre verlassen hatten.
Größtenteils sind dies Arbeitsmigranten aus den drei ehemaligen Sowjetrepubliken Usbekistan, Tadschikistan und Kirgistan. Rund 70 Prozent aller Einwanderer nach Russland kommen aus diesen zentralasiatischen Staaten. Unter den restlichen 30 Prozent sind Ukrainer, Moldauer und Migranten aus Südostasien, etwa aus Vietnam, wie Ledenewa betont.
Die meisten dieser Menschen gehen in Russland zwar weniger qualifizierten Tätigkeiten nach, sie für ungebildet zu halten, wäre jedoch verfehlt: Ein Viertel der Einwanderer haben eine abgeschlossene Berufsausbildung, 17 Prozent sogar einen Hochschulabschluss, wie aus der jüngsten Erhebung der Higher School of Economics hervorgeht. Rund 75 Prozent dieser Menschen sind nicht mehr als 40 Jahre alt.
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