Diskussion in Russland: Wie reagiert der Staat auf Gewalt in der Familie?

Das Land tut sich schwer mit dem Kampf gegen Gewalt in der Familie.

Das Land tut sich schwer mit dem Kampf gegen Gewalt in der Familie.

Alamy/Legion Media
Die Polizei weigerte sich, einer Frau im Streit mit ihrem Partner zu helfen. Stattdessen versprach man ihr, ihre Leiche abzuholen, „wenn etwas passiert“. Eine Dreiviertelstunde später fiel die Frau in ein Koma und verstarb schließlich im Krankenhaus. Dennoch debattiert die russische Staatsduma zurzeit eine Entkriminalisierung häuslicher Gewalt.

Die 36-jährige Jana Sawtschuk aus der Stadt Orjol, 352 Kilometer von Moskau entfernt, wurde von ihrem Partner solange getreten, bis sie in ein Koma fiel und im Krankenhaus verstarb, ohne nochmal das Bewusstsein zu erlangen. Eine Dreiviertelstunde zuvor hatte sie während des Streits die Polizei gerufen. Diese war zwar erschienen, mischte sich jedoch nicht in die Auseinandersetzung ein. Bevor sie wieder wegfuhren, ließen die Beamten die Frau wissen, dass sie nicht noch einmal erscheinen würden. „Warum kommen Sie nicht? Wieso? Ich habe Sie doch angerufen! Und wenn etwas passiert, kommen Sie dann?”, fragte Jana. Die Aufnahme ihres Gesprächs mit der Polizeibeamtin Natalja Baschkatowa wurde auf ihrem Handy gespeichert. „Wenn Sie umgebracht werden, dann kommen wir natürlich. Wir werden zu Ihnen fahren und Ihre Leiche abholen, machen Sie sich keine Sorgen”, antwortete die Beamtin und drohte mit Konsequenzen im Falle einer Anzeige.   

Die 36-jährige Jana Sawtschuk aus der Stadt Orjol. Foto: vk.comDie 36-jährige Jana Sawtschuk aus der Stadt Orjol. Foto: vk.com

Diese Vernachlässigung der Dienstpflichten wurde in sozialen Netzwerken und den Medien heftig kritisiert. Polizeibeamtin Baschkatowa wurde letztes Jahr zum dritten Mal zur besten Kontaktbereichsbeamtin Orjols ernannt. Der Mörder Andrej Batschkow wurde vorher drei Mal wegen Raub, Vergewaltigung und Drogenbesitzes verurteilt und hatte seine Partnerin schon früher bedroht. Eine besondere Schärfe bekommt der Fall vor dem Hintergrund eines umstrittenen Gesetzentwurfes, der zurzeit in der russischen Staatsduma debattiert wird.  

„Die Familie ist nicht die Sache des Staates“

Der Gesetzentwurf, den man bereits als „Klapsgesetz” bezeichnet, liegt derzeit bei der Staatsduma. Ein rechtlicher Widerspruch liegt dem Entwurf zu Grunde: Misshandelt man seine Verwandten, muss man mit einer Gefängnisstrafe rechnen, während eine Gewaltanwendung gegen Unbekannte lediglich mit einer Geldstrafe geahndet wird. Der Gesetzgeber versucht beide Taten gleichzustellen, indem beide Verbrechen in Zukunft nur mit einer Geldstrafe belegt werden.    

Die Verfasserin des Gesetzentwurfes, Jelena Misulina, meint, dass das alte Gesetz einen überzogenen Kinder- und Jugendschutz, sprich eine unbegründete Einmischung in die familiären Angelegenheiten, legalisiere. Diese Einmischung hat in Russland viele Gegner. Die Familienkommission der russisch-orthodoxen Kirche stimmt Misulina zu: Sie plädiert für eine Straffreiheit bei Eltern, die ihre Kinder schlagen. Die Regierung, die Mehrheit der Abgeordneten und Menschenrechtler, die schon lange härtere Strafen gegen häusliche Gewalt fordern, widersprechen. Eine Entkriminalisierung häuslicher Gewalt werde die Situation nur verschärfen.  

Laut Angaben des Menschenrechtsrates beim russischen Präsidenten aus dem Jahr 2015 stirbt alle 40 Minuten eine Frau in Russland an den Folgen familiärer Gewalt und 40 Prozent aller Gewalttaten werden in der Familie begangen. Mehr als die Hälfte der Opfer zeigt diese Verbrechen nicht an. Nur drei Prozent aller Fälle schafften es vor ein Gericht, sagen verschiedene Organisationen.

„Das moderne Leben ist ein Kampf zwischen Mann und Frau”

Die Polizei fahre nicht gerne zu Familienstreitigkeiten und das sei ein Problem, das ganz Russland betreffe, meint Sergei Enikolopow, Leiter der Abteilung für medizinische Psychologie am Wissenschaftszentrum für psychische Gesundheit der Russischen Medizinakademie. Er ist Spezialist für Gewaltfragen. Der Grund dafür: In den meisten Fällen würden Anzeigen schon am nächsten Tag zurückgezogen und die Frau wolle ihren Mann zurück. „Im Rausch des Streites ruft die Frau die Polizei, schläft eine Nacht darüber und realisiert, dass ihr Partner eigentlich der Versorger der Familie ist und welche Folgen das Ganze hat. Für die Polizeibeamten bereitet das große Probleme: Sie sind umsonst ausgerückt und haben ein sinnloses Protokoll erstellt. Man kann sie verstehen, obwohl das natürlich inakzeptabel ist“, sagt Enikolopow.  

„Ich bin dagegen, häusliche Gewalt mit der mittelalterlichen Hausordnung „domostroi“, die Misshandlung als Erziehungsmethode für Frauen und Kinder zulässt, zu legitimieren und zu erklären. Wir befinden uns mitten in einer Zeit, die uns Sorgen bereitet: Frauen kämpfen für ihre Rechte und die Gleichstellung setzt sich durch – das ist so“, führt der Experte aus. „Gewalt ist das letzte Mittel, zu dem ein Mann mit Minderwertigkeitskomplexen greift, um zu zeigen, dass er das Sagen hat. Solche Männer sind Versager und „domostroi“ hat damit nichts zu tun. So ist unser modernes Leben: Es ist ein Kampf zwischen Mann und Frau.” 

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