Muslime in Moskau: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser

Anton Belitskiy
Während Europa von Terroranschlägen heimgesucht wird, bleibt die Lage in Moskau ungewöhnlich ruhig: Den letzten Anschlag erlebte die russische Hauptstadt im Januar 2011 – und das, obwohl Russland den Terrorismus in Syrien bekämpft und in Moskau zwei Millionen Muslime leben, viele davon erst kürzlich zugewandert. Wie lange wird es noch so ruhig bleiben? Eine Spurensuche in Moskau.

Die meisten Verkäufer des Moskauer Einkaufszentrums „Dubrowka“ sind Muslime.  / Anton BelitskiyDie meisten Verkäufer des Moskauer Einkaufszentrums „Dubrowka“ sind Muslime. / Anton Belitskiy

„Dubrowka“ ist eines der rund eineinhalbtausend Einkaufszentren der russischen Hauptstadt. Sein Alleinstellungsmerkmal ist die gute Lage: Nur wenige hundert Meter sind es bis zur nächsten U-Bahn-Station und nur fünf Kilometer bis zum Kreml, dem Zentrum Moskaus. „Eines der beliebtesten Shoppingzentren der Moskowiter“ heißt es auf einem Banner am Eingang zum Einkaufsparadies. Doch ausgerechnet bei den Moskowitern ist „Dubrowka“ weniger beliebt: Das Einkaufszentrum ist vielmehr verrufen – als „Muslimmarkt“.

Im Inneren des Shoppingcenters herrscht eine Atmosphäre, als wäre man nicht in Moskau, sondern in einer Pariser Banlieue oder in Berlin Kreuzberg: Frauen mit Kopftüchern, Männer mit Gebetsketten, Halal-Lebensmittel, muslimische Mode („Verhüllen mit Schick“) – und das alles auf 80 000 Quadratmetern Fläche.

Im Einkaufszentrum „Dubrowka“ werden Bekleidung, Schuhe, Schmuck, Taschen, Kosmetik, Elektronik und Hochzeitsartikel angeboten.  / Anton BelitskiyIm Einkaufszentrum „Dubrowka“ werden Bekleidung, Schuhe, Schmuck, Taschen, Kosmetik, Elektronik und Hochzeitsartikel angeboten. / Anton Belitskiy

Die Einwohner des Viertels sind unzufrieden. „Auf der Straße kriege ich Angst“, sagt eine Frau in mittleren Jahren, die sich als Anna Wiktorowna vorstellt. Sie wohnt direkt gegenüber dem Einkaufszentrum. „Auch um meine Tochter habe ich Angst, sie kommt von der Uni immer spät nach Hause. Ein paar Mal haben die Migranten sie belästigt, einmal fast vergewaltigt.“ Meine Frage, ob es sich bei den jungen Männern nicht auch um russische Staatsbürger gehandelt haben könnte, weist sie ab: „Ihre Papiere sind alle gefälscht. Eine Anmeldung bekommt man für 200 Dollar, gleich an der Ecke am Muslimmarkt“, sagt sie.

Tatsächlich: Links vom Eingang zu „Dubrowka“ gibt es eine große Stahltür, davor viele Menschen mit sichtbarem Migrationshintergrund. Auf meine Frage, wofür man dort anstehe, drehen sich viele stillschweigend weg. Eine Straßenfegerin in orangenem Overall bestätigt aber das, was Anna Wiktorowna mir erzählt hat.

„Als wären wir Verbrecher“

Die Moskauer Kathedralmoschee wurde 2007 bis 2015 neu gebaut. Sie bietet Platz für bis zu 10 000 Besucher. / Anton BelitskiyDie Moskauer Kathedralmoschee wurde 2007 bis 2015 neu gebaut. Sie bietet Platz für bis zu 10 000 Besucher. / Anton Belitskiy

Murad, ein 26-Jähriger mit dichtem schwarzem Bart, verkauft im Shoppingcenter gebrauchte Mobiltelefone. Seine Geschichte ist für einen nach Moskau zugezogenen Muslimen typisch: Vor sechs Jahren verließ er sein Heimatdorf in der russischen Teilrepublik Dagestan, die rund 1 600 Kilometer südöstlich von Moskau entfernt liegt, gleich nachdem sein Bruder und sein Onkel die Heimat ebenfalls verlassen hatten. Zu dritt mieten sie nun ein Zimmer in einer Kommunalka im Nordosten der Hauptstadt. Warum er aus seiner Heimat weggezogen ist? „Weil es zu Hause keine Arbeit gibt.“ Hier aber stehe er zwölf Stunden an seinem Verkaufsstand und verdiene 40 000 Rubel im Monat (615 Euro). Das reiche für die Miete und für gelegentliche Paketsendungen an seine Eltern in Dagestan.

Murad trinkt nicht, macht Kampfsport und hat nur mit Gleichgesinnten zu tun – eine Ausnahme sind russische Frauen. Diese seien „nach den Frauen aus Dagestan die schönsten der Welt“. Doch das Leben in der Hauptstadt gefällt Murad nicht: „Die Polizei hält mich und meine Verwandten in der U-Bahn drei Mal täglich an und prüft unsere Papiere, nur weil wir so aussehen. Sie sind respektlos zu uns, als wären wir Verbrecher.“

Auf dem alljährlichen Islamischen Opferfest sammeln sich so viele Gläubige, dass nicht alle in die Moscheen rein kommen. Dann beten viele auf der Straße. / Anton BelitskiyAuf dem alljährlichen Islamischen Opferfest sammeln sich so viele Gläubige, dass nicht alle in die Moscheen rein kommen. Dann beten viele auf der Straße. / Anton Belitskiy

Besonders schlimm aber sei, dass es in Moskau nur wenige Moscheen gibt. „Das verletzt nicht nur mich, sondern alle Muslime“, sagt er. „Orthodoxe Kirchen gibt es in jedem Viertel, wir aber haben nur eine Moschee für den ganzen Moskauer Norden. An Feiertagen ist dort kein Durchkommen, Enge, Hitze, man fühlt sich wie ein Bock im Stall. Warum macht man uns so nieder?“

Moscheen gegen den Terror?

Die Jardam-Moschee ist Teil eines religiösen Gebietes im Norden Moskaus. Dort sind auch eine russisch-orthodoxe Kirche, eine Synagoge und eine schiitische Moschee angesiedelt.  / Anton BelitskiyDie Jardam-Moschee ist Teil eines religiösen Gebietes im Norden Moskaus. Dort sind auch eine russisch-orthodoxe Kirche, eine Synagoge und eine schiitische Moschee angesiedelt. / Anton Belitskiy

Moscheen gibt es in Moskau tatsächlich nur wenige, gerade einmal acht. Unter dem Druck muslimischer Geistlicher stimmt die Stadtverwaltung dem Bau neuer Gebetshäuser immer wieder zu, beugt sich dann aber dem Protest der Einheimischen und zieht die Genehmigungen wieder zurück.

Der 19-jährige Imam Schamil Aljautdinow predigt in der Memorial-Moschee am Poklonnaja-Hügel. Mit seinem Ärger hält er nicht hinterm Berg: „Hätte man alles umgesetzt, was die Beamten uns in den letzten 15 Jahren versprochen haben, gäbe es heute an die 50 Gebetshäuser in Moskau.“ Das wäre gut für sie und für die Regierung, schimpft er. „Denn es ist doch besser, dass die Zuwanderer offizielle Moscheen besuchen, statt zu Hause zu beten und mit irgendwem in Kontakt zu kommen“, sagt der Imam. Mit „irgendwem“ meint er offenbar Hassprediger und IS-Anwerber.

Ich treffe mich mit einem Offizier des russischen Inlandsgeheimdiensts FSB. Er möchte, dass sein Name nicht genannt wird. Die Vorstellung des Imams hält er für reines Wunschdenken: „Die Jardam-Moschee im Nordosten Moskaus ist ein voll und ganz offizielles Gotteshaus. Und trotzdem wurde dort zur Unterstützung einer Terrororganisation aufgerufen – von dem dortigen Imam höchstpersönlich. Übrigens: Der Terrorist, der für den Anschlag auf den Passagierbus in Wolgograd verantwortlich war, hat auch diese Moschee besucht“, sagt der FSB-Insider. Der Prediger der Moschee, Machmud Welitow, ist zusammen mit vier weiteren Muslimen wegen Anwerbung für den IS im vergangenen Jahr verhaftet worden.

Der rechte Glaube ist friedlich

Im Juli 2016 wurde der Prediger der Jardam-Moschee, Machmud Welitow, verhaftet, weil er angeblich für den „Islamischen Staat“ rekrutierte. / Anton BelitskiyIm Juli 2016 wurde der Prediger der Jardam-Moschee, Machmud Welitow, verhaftet, weil er angeblich für den „Islamischen Staat“ rekrutierte. / Anton Belitskiy

Ich besuche das größte islamische Gotteshaus in Moskau: die Kathedralmoschee am Prospekt Mira (an der Friedensallee), drei Kilometer vom Kreml entfernt. 10 000 Besucher finden hier auf sechs Stockwerken und 19 000 Quadratmetern Fläche Platz.

Die Moschee kennt jeder – selbst für jene, die mit Religion nichts am Hut haben, ist sie ein Begriff. Grund dafür ist das alljährliche Islamische Opferfest, zu dem sich bis zu 150 000 Gläubige vor der Moschee versammeln. In das überfüllte Gebäude kommen die Männer nicht rein, also versammeln sie sich ohne jedwede Genehmigung auf der Allee und den anliegenden Straßen, sie beten direkt auf der Fahrbahn. Das verstopft die Verkehrsadern der Hauptstadt und sorgt zum Unmut der Moskauer für kilometerlange Staus.

Heute ist es ein ganz normaler Tag, in der Moschee halten sich nur wenige Gemeindemitglieder auf. Am Eingang versuche ich mit einem graubärtigen Mann ins Gespräch zu kommen. Er heißt Schamil. Auf meine Frage nach dessen Einstellung zum IS reagiert er gereizt: „Die Russen haben keine Ahnung vom Koran, daher kommen all eure Ängste“, belehrt er mich. „Stell dir vor, wir würden keinen friedlichen Glauben vertreten. Dann hätten wir Moskau doch schon längst in die Luft gejagt!“

Am 6. Februar 2004 sprengte sich ein Selbstmordattentäter mit einer Bombe der Marke Eigenbau in einem Waggon der grünen Linie der Moskauer Metro in die Luft. 41 Menschen starben, weitere 250 wurden verletzt. Heute erinnert eine Gedenktafel in der Metrostation Awtosawodskaja an den Terrorakt. / Anton BelitskiyAm 6. Februar 2004 sprengte sich ein Selbstmordattentäter mit einer Bombe der Marke Eigenbau in einem Waggon der grünen Linie der Moskauer Metro in die Luft. 41 Menschen starben, weitere 250 wurden verletzt. Heute erinnert eine Gedenktafel in der Metrostation Awtosawodskaja an den Terrorakt. / Anton Belitskiy

Es kommt einem so vor, als wäre das tatsächlich zuletzt in den Neunzigerjahren der Fall gewesen: Seit Beginn des Anti-Terror-Einsatzes der russischen Regierung in Tschetschenien im Jahr 1993 wurden allein in Moskau 32 Anschläge verübt, bei denen 542 Menschen starben. Der Großteil der Terroristen und ihrer Hintermänner waren Anhänger des radikalen Islams. Seitdem Ramsan Kadyrow in Tschetschenien das Ruder übernommen hat, werden alle Separatismus-Bestrebungen unterdrückt – die Zahl der Anschläge ging deutlich zurück. In der Hauptstadt explodierte die letzte Bombe am 24. Januar 2011 am Flughafen Domodedowo. Damals starben 37 Menschen. Der Anschlag geht laut offizieller Version auf das Konto des Kaukasus-Emirats, einer tschetschenischen Terrororganisation. Seitdem herrscht Stille.

Die Hauptprobleme: Bestechung und Korruption

Alexander Gussak, ein pensionierter FSB-Offizier, leitete in den Neunzigern eine geheime Terror-Abteilung im Geheimdienst. Seine Verbindung zu seinem ehemaligen Arbeitgeber hat er bis heute erhalten. Gussak führt die derzeitige Ruhe auf zwei Faktoren zurück: die unermüdliche Arbeit seiner ehemaligen Kollegen und die tolerantere Glaubenskultur russischer Muslime im Vergleich zum Islam in Syrien, Afghanistan und dem Irak.

Da viele Terroranschläge in der Moskauer Metro von Dschihadisten verübt wurden, ist das Verhältnis zu Muslimen in der russischen Hauptstadt angespannt. / Anton BelitskiyDa viele Terroranschläge in der Moskauer Metro von Dschihadisten verübt wurden, ist das Verhältnis zu Muslimen in der russischen Hauptstadt angespannt. / Anton Belitskiy

„Es gibt hier deutlich weniger religiöse Ignoranz“, sagt er. „Das ist ganz anders, als wenn jemand ein Kapitel aus dem Koran gelesen hat und ohne sich damit auseinanderzusetzen den Dschihad ausruft. Bei uns leben doch etwas andere Muslime.“ Zudem hätten russische Muslime eine gemeinsame Herkunft: die Sowjetunion. „Die Menschen aus Tatarstan oder Dagestan lassen sich nicht mit den Dschihadisten in Syrien vergleichen“, erklärt Gussak.

Für den FSB ist das kein Grund, die Hände in den Schoß zu legen. Das Agentennetz sei in den letzten Jahren stark gewachsen, berichtet der ehemalige Offizier. „Die Agenten machen das, wofür die Sowjet-Geheimdienste berühmt waren: Infiltration.“ Als Beispiel nennt Gussak einen Vorfall von vor zwei Jahren. Damals hätten Muslime mitten in Moskau mit „Allahu akbar“-Rufen einen Polizeibus gestürmt, aus Protest gegen die Verhaftung ihrer Glaubensbrüder, die eines Verbrechens bezichtigt wurden.

„Selbst ein Imam konnte sie nicht aufhalten. Eine Sondereinheit der Polizei kam zu Hilfe, die Muslime haben ihrerseits Freunde und Verwandte herbeigerufen. In einer halben Stunde kam ein ganzer Pulk zusammen. Eine sehr angespannte Situation. Hätte die Sondereinheit mit Gewalt reagiert, hätten sich die Unruhen wie ein Lauffeuer in der ganzen Stadt verbreitet. Da haben die Agenten reagiert. Die V-Männer legten den Konflikt bei, die Menge ging auseinander, die Polizei verhaftete in aller Ruhe die Anstifter.“ Um sich vollständig zu integrieren, konvertierten einige Mitarbeiter des FSB eigens zum Islam. „Sie beobachten potenziell gefährliche Gruppen innerhalb der Glaubensgemeinschaft. Natürlich arbeiten sie auch mit den Geistlichen Seite an Seite.“

Der russische Geheimdienst überwacht die muslimischen Gemeinden. / Anton BelitskiyDer russische Geheimdienst überwacht die muslimischen Gemeinden. / Anton Belitskiy

Dennoch ist die Gefahr von Anschlägen nach wie vor groß, räumt Gussak ein. „Vieles kommt nicht an die Öffentlichkeit, um keine Panik zu schüren. Aber sollte eine starke Terrorgruppe einen Anschlag planen, wird sie ihn früher oder später auch verüben. Solange unsere größten Probleme im Inneren – Bestechung und Korruption – ungelöst bleiben, solange bleibt das möglich“, meint der Sicherheitsexperte.

Ein Einsatz gibt ihm dabei besonders zu denken: „Letztes Jahr im Frühling haben meine Kollegen einen Anschlag in Moskau vereitelt. Sie fanden in einem Haus am Stadtrand Aluminiumpulver, Bauteile von Sprengsätzen. Ich war in dem Haus, die meisten Wohnungen werden illegal vermietet. Bis zu 15 Migranten leben dort in einer Wohnung. Du klingelst an der Tür und kriegst sofort einen Geldschein durch den Türspalt. Für die örtliche Polizei ist das eine lukrative Einnahmequelle. Gut, dass wir rechtzeitig reagiert haben. Es hätte auch zu spät sein können.“

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