Besuch in einer Obdachlosenkommune: Dem Tod von der Schippe gesprungen

In den von Jemeljan Sossinski gegründeten „Häusern der Arbeitsliebe“ (domy trudoljubija) leben und arbeiten heute 700 Menschen, die vor kurzem noch als Obdachlose ein hoffnungsloses Dasein in Moskau fristeten. Dem Initiator dieses sozialen Projektes ist es gelungen, Menschen einen Weg von der Straße zurück in ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen.

Foto: Olga OgarjewaFoto: Olga Ogarjewa

Obdachlosigkeit ist überall auf der Welt ein hartes Schicksal. Das Leben russischer „Bomschy“ (Menschen ohne festen Wohnsitz) aber ist besonders tragisch. Das raue Klima und der entsprechend starke Konsum hochprozentigen Alkohols führen zu einem schnell voranschreitenden körperlichen Verfall, zum Verlust eines menschenwürdigen Daseins und oft zum Tod. Amtliche Statistiken zur Lebenserwartung Obdachloser gibt es nicht. Nach sachkundigen Schätzungen der Sozialämter überlebt ein Wohnungsloser ohne regelmäßigen Zugang zu einer Notunterkunft und anderen Hilfsangeboten der Stadt jedoch nicht länger als etwa zwei bis fünf Jahre.

Hilfe für diese Menschen zu organisieren, ist nicht einfach. Wer auf der Straße gelandet ist, hat nicht nur sein Dach über dem Kopf sondern auch die Fähigkeit verloren, Verantwortung für sein Leben zu übernehmen. Jemeljan Sossinski, ein Mensch aus der Mitte der Gesellschaft, war selbst nie obdachlos, hatte aber immer Mitgefühl für Menschen ohne Bleibe. Und er hatte eine Idee, wie man diesen Menschen ihre Würde wieder zurückgeben und sie von der Straße zurück ins Leben führen könnte.

Ein Rettungsanker für Wohnungslose

Емельян Сосинский / Personal archiveЕмельян Сосинский / Personal archiveSossinski war sein Leben lang auf der Suche nach Möglichkeiten, Arbeit mit der Hilfe für Menschen zu verbinden. So arbeitete er zum Beispiel eine Zeit lang als Sozialarbeiter mit schwer erziehbaren Jugendlichen.

Erstmals engagierte er sich gemeinsam mit Angehörigen einer Kirchengemeinde aktiv für Obdachlose. Nach zwei Jahren aber begriff er, dass ihre Arbeit vergeblich war. Sie verhalfen den Menschen auf der Straße zu Papieren, verschafften ihnen Arbeitsplätze – die aber wollten nicht arbeiten. Sie kauften ihnen Zugfahrkarten, damit sie in ihre Heimatstädte fahren konnten – aber sie kehrten zurück. Sossinski träumte davon, dass ihnen ein langes und glückliches Leben beschieden sei – sie aber starben auf der Straße und hatten in ihrem Leben nichts verändert.

So fing er an, sich radikale Fragen zu stellen. Gänzlich unerwartet fand er schließlich Antworten beim russischen Heiligen Johannes von Kronstadt. 1872 diente Erzpriester Iwan Iljitsch Sergijew, damals noch kein Heiliger sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut, als Prediger in Kronstadt bei Petersburg. In der Lokalzeitung rief er die Bewohner der Stadt auf, ein Arbeitshaus mit Werkstätten zu gründen und zu kaufen, was dort hergestellt würde. Als 1882 schließlich das „Haus der Arbeitsliebe“ eröffnete, fand dort weit über die Hälfte der Obdachlosen von Kronstadt eine Bleibe und einen Arbeitsplatz. Sossinski wollte diese Idee 120 Jahre später wiederbeleben.

Ein neues Leben in Gemeinschaft

Um eines der von ihm ins Leben gerufenen Arbeitshäuser zu besuchen, fahren wir mit der Vorortbahn nach Iwantejewka bei Moskau. Dort befindet sich das „Arbeitshaus „Noj““. Von anderen Unterkünften für Notleidende unterscheidet es sich dadurch, dass die Wohnungslosen dort arbeiten und ihren Lebensunterhalt selbst erwirtschaften. 

Die Obdachlosen bewohnen ein dreistöckiges Haus, das Sossinski anfangs vom Eigentümer für monatlich rund 1 350 Euro mietete. Es stellte sich heraus, dass die einstigen „Bomschy“ – als Kommune organisiert – sehr zuverlässige Bewohner und angenehme Mieter waren: Sie zahlten pünktlich und waren freundlich. Der Eigentümer ließ daraufhin ein weiteres Haus bauen, das er nun ebenfalls an Sossinski vermietet.

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Von außen betrachtet unterscheidet sich das hellgelbe Landhaus überhaupt nicht von den anderen Villen der Siedlung. Die aber werden jeweils von einer wohlhabenden Familie bewohnt, während hier 35 Menschen leben.

Das große Zimmer im Erdgeschoss hat mit einem Wohnzimmer nicht viel gemeinsam. In der rechten Ecke stehen mehrere Stockbetten, zwischen den Fenstern vor der Wand ein Schrank mit Ikonen, direkt gegenüber ein Fernseher. Heute ist arbeitsfreier Tag. Die Bewohner schauen alles hintereinander: Nachrichten, Talkshows, Spielfilme.

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Die Küchenfenster sind beschlagen. Auf dem Herd köchelt Graupenbrei mit Fleisch für das Abendessen. Der 60-Liter-Topf steht auf vier Kochplatten und nimmt den ganzen Herd ein. An der Türe hängt ein Hinweis der Wäscherei: „Brüder, an Sonntagen wird nur Arbeitskleidung gewaschen!“

Die Bewohner finanzieren sich und andere selbst

Um die Organisation der Arbeit kümmern sich ein Helfer des Hauses und Alena Sossinski, die Ehefrau des Leiters. Ihren Mann hat sie in einem anderen Zentrum kennengelernt, in dem sich beide zur Kur nach einer Alkoholentwöhnung aufhielten. Sie telefoniert jeden Tag mit Baustellenleitern, örtlichen Unternehmen und kommunalen Diensten. An einem Acht-Stunden-Tag kann man etwa 2 200 Rubel, rund 35 Euro, verdienen.

Das Geschäftsmodell des Obdachlosenheims ist einfach: Die Arbeiter bekommen die Hälfte ihre Lohns, sind dabei aber rundum versorgt: mit einer Unterkunft, drei Mahlzeiten, Kleidung und Unterstützung bei Ämterfragen. Die andere Hälfte des Lohns wird für die Miete, für Lebensmittel, Medikamente, die Anschaffung von Haushaltsgegenständen sowie die Unterhaltung von Sozialhäusern – Unterkünften für Alte, Behinderte und Mütter mit Kindern – verwendet.

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„Anfangs rechneten wir so: Wenn die Bewohner des Hauses monatlich 400 000 Rubel (6 300 Euro, Anm. d. Red.) verdienen, dann hat das Haus eine ausgeglichene Bilanz“, erzählt Jemeljan Sossinski. „Auch wenn wir keinen Gewinn erwirtschaften, können wir so Aber zumindest alle Kosten decken. Bei dieser Rechnung ging ich von 40 Personen aus, von denen 20 zum Arbeitskräfte-Pool gehören. Ein weiterer Teil arbeitet im Haus und weitere werden von der Gemeinschaft versorgt. Wenn wir 400 000 Rubel monatlich zur Verfügung haben, reicht uns das für den Lohn, für Lebensmittel und für die Miete – mehr brauchen wir nicht.“

Es gibt allerdings ein Problem: „Eine wichtige Einnahmequelle, von der unsere ganze Einrichtung lebt, ist schwere körperliche Arbeit als Baustellenhelfer“, erklärt Sossinski. Bei weitem nicht alle Obdachlosen seien diesen Anforderungen gewachsen. „Der Körper hat praktisch bei allen Menschen, die einmal auf der Straße gelebt haben, gelitten. Ideal wäre es, mehrere Arbeitsstätten zu haben. So könnten manche zum Beispiel Umschläge kleben oder geistige Arbeiten ausführen.“

Solidarität wird großgeschrieben

Seit 2011 hat Sossinski bereits zehn Arbeitshäuser eröffnet, in denen körperlich gesunde Männer leben und jeden Tag zur Arbeit gehen. In seinen Projekten sind insgesamt rund 700 Menschen untergekommen, 250 von ihnen sind Alte, Behinderte und Mütter mit Kindern. Für sie werden zusätzlich zwei Sozialhäuser gemietet. Eines von ihnen ist nicht weit entfernt. Es ist ein kleines Schloss aus rotem Ziegelmauerwerk. Sein Eigentümer baute es als Vorstadt-Pension, aus dem Vorhaben wurde aber nichts. Nun vermietet er das malerische Haus, das unter Kiefern steht. 

Foto: Olga OgarjewaFoto: Olga Ogarjewa

Das Essen für die Gemeinschaft wird auf der Straße gekocht, in einer Feldküche. Außer dem Frühstück, Mittag- und Abendessen gibt es eine Pause für eine Zwischenmahlzeit und eine feste Mittagsruhe. Die Menschen hier sind schließlich oft in ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkt. Dennoch wird erwartet, dass sich jeder nach seinen Möglichkeiten einbringt. Die einen versorgen die Tiere, andere fegen die Wege. Die Kräftigsten von ihnen stellen ihre Hilfe in der Kirche oder im Kinderheim zur Verfügung.

Für Mütter mit Kindern gibt es eine eigene Küche. Nastja und Nina kneten gerade Teig für Wareniki. Beiden ist in ihrem Leben Verrat widerfahren und eine wundersame Rettung zuteil geworden. 

Foto: Olga OgarjewaFoto: Olga Ogarjewa

Olga schaut hinter dem Vorhang hervor in die Küche: „Wie ich mich auf die Wareniki freue!“ Hinter dem Raumteiler ist eine kleine Schneiderwerkstatt. Olga näht schon den halben Tag mit einer Nähmaschine Arbeitshandschuhe und Bettwäsche für das Sozialhaus. Ohne dieses Haus würde sie wohl nicht mehr leben. Vor einem halben Jahr sah sie keinen Ausweg mehr und wollte ihrem Leben ein Ende setzen. Kurz vor dem Winter blieb sie auf der Straße, es gab niemanden, den sie um Hilfe hätte bitten können. Fremde brachten sie in ein Heim. Dort untersuchte sie ein Arzt und stellte eine Lungenentzündung fest. Im Krankenhaus rettete man sie durch einen Luftröhrenschnitt.

„Sehen Sie das hier?“, Olga zeigt fröhlich auf ihren Hals. „Man sieht sogar noch die Narbe!“

Man glaubt kaum, dass sich jemand an einer Narbe erfreuen kann – wäre es nicht die Freude angesichts eines fast verlorenen und unverhofft wiedergefundenen Lebens.

Obdachloser Gästeführer: Ein Leben auf der Straße

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