Julia Kissina: „Retten muss man sie alle, kein einziger Mensch darf vergessen werden“

In ihrem neuen Roman „Frühling auf dem Mond“ lässt die ukrainisch-russisch-deutsche Schriftstellerin Julia Kissina ein kleines Mädchen durch das Kiew der 1970er-Jahre wandeln – dabei rettet sie Dissidenten und Stalinisten gleichermaßen.

Ein gewöhnlicher Reiseführer arbeitet mit horizontalen Linien: „Gehen Sie 200 Meter nach links, danach 300 Meter rechts, und Sie stehen vor der Kathedrale." In Kiew sieht die Sache etwas anders aus. Die vielen Hügel, Anhöhen und sich auf ihnen erhebenden Kreuze lassen sich ohne Vertikale nicht erfassen. Und wenn man diese Vertikale dicht mit den verschiedensten Wesen besiedelt, mit Toten, Gespenstern, Poltergeistern oder Engeln, ganz oben, über den ganzen Himmel gestreckt, Gott platziert und einem zehnjährigen Mädchen die Reiseleitung überlässt, dann kommt dabei „Frühling auf dem Mond" von Julia Kissina heraus.

Das Buch beschreibt Erinnerungen an eine Kindheit in Kiew. Die Figuren im Umfeld des Mädchens kennt jeder, der eine gewisse Vorstellung von den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts in der Sowjetunion hat – Dissidenten, Geologen, Dozenten für den wissenschaftlichen Kommunismus mit Neigung zum Spiritismus, stalinistische Babuschkas, geniale Künstler, von denen noch nie jemand etwas gehört hat, Hochstapler und Verfasser von Zirkusnummern. Das Milieu ist mehr oder weniger verständlich. Kommen wir zum eigentlich Interessanten.

Die Stadt in Kissinas Roman lebt. Die Veränderungen im Stadtbild geschehen zeitgleich mit den körperlichen Veränderungen des heranwachsenden Mädchens. In den 1970er-Jahren wurden die Bewohner des Zentrums massenhaft in Außenbezirke umgesiedelt. Der Abriss der alten Gebäude, die Ausdehnung der Stadt durch neue Bezirke – das alles ist eloquent und witzig beschrieben. Gleichzeitig erzeugt die in der Luft liegende Vitalität einen unerwarteten Effekt: Der Tod bekommt hier etwas Flüchtiges und Leichtes, etwas von einer Erkältung. Es scheint, als fließe im Dnepr lebendiges Wasser aus russischen Märchen, er führt ein Übermaß an Leben, Letzteres tritt förmlich über seine Ufer. Hier heiratet man tote Filmschauspieler; das von seiner Mutter nach dem Krieg erdrosselte Mädchen, das aus einem strafbaren Verhältnis mit einem deutschen Offizier hervorgegangen ist, wird nicht einfach nur zum Leben erweckt, auf wundersame Weise spaltet es sich in zwei Teile; die Seelen von Puschkin, Gagarin und Garibaldi sind auf gleicher Ebene wie andere Helden mit der Handlung verwoben.

Und schließlich ist da ein Mädchen, mit dem die brüchige Konstruktion dieser magischen, von Stalinisten und Sowjetfeinden bewohnten Stadt gleichsam steht und fällt. Ein Mädchen, das sich um nichts so sorgt wie um die Erfüllung seiner Mission, der Rettung der Stadt vor ihrem Untergang oder, mehr noch, der Rettung der ganzen Welt. Es verfasst Listen ihrer Freunde und Bekannten und vermerkt auf ihnen „niemals vergessen", es schickt sich selbst einen Brief in die Zukunft, es saugt wie ein Schwamm Farben und Klänge dieser Welt in sich auf, weil es spürt, dass deren Tage gezählt sind. Als das Mädchen die Stadt verlässt, hört diese, einem inneren Gesetz folgend, auf zu existieren. Eine Epoche geht zu Ende, die Perestroika steht vor der Tür. Die Zukunft wird Unabhängigkeit, Orange Revolution und ein Hin- und Hergeworfensein der Kiewer Führung zwischen Moskau und Brüssel mit sich bringen.

Kissina lebt in Deutschland, ihr von Valerie Engler hervorragend übersetzter Roman ist bei Suhrkamp erschienen. Man kann Kissina als russische oder ukrainische Schriftstellerin bezeichnen, die in Deutschland lebt, ebenso wie als deutsche Schriftstellerin, die russisch schreibt. In ihrer vielleicht wichtigsten Rolle ist sie eine Sensation in der deutschen Literatur, eine Bereicherung für den deutschen Leser. Deutschland braucht ihre Stimme aus folgendem Grund: Die östlich von Polen beginnende Welt wird vom deutschen Leser gewissermaßen mathematisch aufgefasst, als eine Proportion. Der Wahrnehmung liegt ein Verhältnis von Freiheit und Unfreiheit zugrunde. Zu sowjetischen Zeiten neigte sich die Waagschale

eindeutig in Richtung Unfreiheit, mit der das Leben der Bevölkerung vermeintlich erschöpfend beschrieben war. Man könnte den deutschen Lesern auch für diese Sichtweise dankbar sein. Schließlich fördern ihre Neugier und ihr Interesse das Erscheinen von Büchern wie „Frühling auf dem Mond". Wie aber lassen sich in dieses Schema Szenen pressen wie das Verhör beim KGB, das sich in eine Rezitation von Gedichten verwandelt, oder die Aufnahme eines neuen Mitglieds in die Kommunistische Partei im Rahmen einer spiritistischen Sitzung, auf der Karl Marx um Rat gebeten wird?

Die Absicht des Buches ist es, das Schwarz-Weiß-Denken zu durchbrechen. Das Mädchen schließlich kümmert es nicht, wen es vor sich hat – einen Stalinisten oder einen Dissidenten. Retten muss man alle, nicht ein einziger Mensch darf vergessen werden. Diese frische metaphysische Sicht eines Mädchens mit großer Mission, diese von Lebenden und Toten bewohnte, vom Licht einer anderen Wirklichkeit durchdrungene Stadt, all das eröffnet dem Leser eine neue Perspektive. Die Welt bekommt neue Facetten, sie wird komplexer und runder. Das Wichtigste aber – aus den Augen des Kindes blickt die Autorin, entgegen ihrer verfehlten Behauptung, sie habe diese Fähigkeit verloren, direkt auf uns. Das lässt hoffen, dass man uns retten wird. Und nicht vergisst.

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