Digitale Schatzkiste: Tolstois Werke kostenlos im Internet

Alle Tolstoi-Veröffentlichungen gibt es nun in digitalisierter Form. Foto: Sergej Prokudin-Gorskij

Alle Tolstoi-Veröffentlichungen gibt es nun in digitalisierter Form. Foto: Sergej Prokudin-Gorskij

Gute Nachrichten für Bücherwürmer: Auf der Webseite tolstoy.ru kann man jedes Werk von Lew Tolstoi lesen. Eine Gruppe Freiwilliger digitalisierte alle 90 Bände seiner Werkesammlung in Rekordzeit. Derzeit sind diese jedoch nur auf Russisch erhältlich.

Im Internet sind vor Kurzem sämtliche Werke des weltbekannten russischen Schriftstellers Lew Tolstoi erschienen. Derzeit sind die Veröffentlichungen zwar nur auf Russisch erhältlich, doch es besteht die Möglichkeit, dass bald auch englische Versionen verfügbar sind.

Innerhalb eines halben Jahres schafften es die freiwilligen Helfer des Projekts „Der ganze Tolstoi auf einen Klick", die 90 Bände der gesammelten Werke des Schriftstellers zu digitalisieren. So sind derzeit auf der Webseite tolstoy.ru in einigen Formaten, wie beispielsweise .pdf oder .epub, sowohl alle Bände als auch sämtliche einzelne Werke des Schriftstellers – insgesamt 761 E-Books – kostenlos abrufbar.

Organisiert wurde das Projekt von dem staatlichen Lew-Tolstoi-Museum, dem Museum und Naturschutzgebiet Jasnaja Poljana und dem russischen Softwarekonzern Abbyy. Leiterin und Ideengeberin des literarischen Vorhabens war Fekla Tolstaja, eine Nachfahrin des genialen Schriftstellers, die sonst im Auftrag des Tolstoi-Museums und als TV-Moderatorin tätig ist. „Dieses Projekt dient dazu, den jungen Menschen entgegenzukommen, die lieber auf dem Display lesen", erklärte Fekla Tolstaja auf einer Pressekonferenz.

Das Wertvollste an der digitalisierten Werkesammlung, so Tolstaja, seien die Tagebücher, die Notizbücher sowie Briefe des Schriftstellers. Denn diese seien einst lediglich in der gedruckten Version dieser Bände, und sonst nirgendwo, zugänglich gewesen.

 

Tolstoi selbst wäre ein großer Fan

Lew Tolstoi selbst verzichtete einst auf seine Urheberrechte. Vor diesem Hintergrund scheint das Projekt wie die Verwirklichung eines Traums des Schriftstellers. Seine Werkesammlung wird mit folgenden Worten eingeleitet: „Nachdrucke sind ohne Entgelt erlaubt".

Derzeit ist noch unklar, ob das Projekt auch in anderen Sprachen realisiert werden soll. Denn obwohl Tolstoi auf seine Urheberrechte verzichtet hat, sind die Übersetzungen seiner Werke noch geschützt. Jedoch seien die Projektinitiatoren bereit, mit Übersetzern zu verhandeln und das Projekt auch auf Englisch im Internet zugänglich zu machen, berichtete Fekla Tolstaja.

Die Originale der 90-bändigen Sammlung Lew Tolstois wurden zum 100. Geburtstag des bekannten Schriftstellers publiziert und im Laufe von 30 Jahren gedruckt, von 1928 bis 1958. Der lange Zeitraum der Publikation führte dazu, dass viele Sammler den Druck des letzten Bandes nicht mehr erlebten. Heute ist die Sammlung so selten, dass man sie selbst in Bibliotheken oft nur unvollständig findet.

 

Freiwillige machten das Projekt möglich

Mit der Digitalisierung der gesammelten Werke Tolstois befasste sich der russische Softwarekonzern Abbyy, der nicht nur sämtliche Seiten der Originale einscannte, sondern auch die dafür benötigte Texterkennungssoftware zur Verfügung stellte. Nachdem alles digitalisiert worden war, stellte man die Texte ins Internet, genauer auf die Webseite readingtolstoy.ru, wo man allen Interessierten anbot, Tolstois Werke zu lesen

– und nebenher die Fehler, die im Zuge der automatisierten Texterkennung passiert waren, zu korrigieren.

Das Angebot nahmen viele Menschen aus verschiedenen Alters- und Berufsgruppen an – von Managern bis hin zu Hausfrauen aus 259 russischen Städten und 49 Ländern. Die erste Leseetappe dauerte etwa zwei Wochen. In dieser Zeit lasen über 1 000 freiwillige Projektteilnehmer insgesamt 46 820 Seiten Text. Wie Rechnungen ergaben, lasen die Freiwilligen durchschnittlich 8,5 Bände oder 3 344 Seiten Text pro Tag.

Die Texte wurden zudem mehrmals gelesen. Die Korrekturleser für den zweiten sowie dritten Lesedurchgang wurden jedoch speziell ausgesucht. Im dritten Schritt zog man professionelle Redakteure hinzu, um die Texte auch gründlich Korrektur lesen zu lassen. Insgesamt zählte das Projekt 3 249 freiwillige Bücherwürmer. Einige der Leser waren dabei besonders fleißig – wie etwa Aleksandr Aksenow, der es schaffte, 6 081 Seiten zu lesen. „Viele der Freiwilligen wollten einfach die Ersten sein, die die einst unzugänglichen Tagebücher und Briefe des Meisterschriftstellers gelesen haben", erklärt Jurij Korjukin.

Auf readingtolstoy.ru kann man nun eine interaktive Weltkarte finden, auf der sich Leser eintragen und so herausfinden können, wo sich die anderen Tolstoi-Leser befinden. Zudem kann man auch sein Lieblingszitat aus Tolstois Werken anführen oder jede beliebige Phrase Tolstois suchen und diese in sozialen Netzwerken mit Freunden und Bekannten teilen.

 

Ein wahrer Datenpool

Noch vor dem Hochladen der Texte ins Internet bemerkten Spezialisten der Staatlichen Hochschule für Wirtschaft, dass es mithilfe der Suchfunktion nun möglich ist, die Texte Tolstois linguistisch zu untersuchen. So konnte man beispielsweise durch diese Funktion herausfinden, dass der längste Satz im Epos „Krieg und Frieden" aus 229 Wörtern besteht und sich im dritten Teil des dritten Bandes befindet. Genauso kann man auch die Garderoben der Romanhelden entschlüsseln: In „Krieg und Frieden" werden insgesamt 120

Kleider erwähnt. Während im zweiten Teil des Epos beinahe keine Soldatenröcke oder Stiefel erwähnt werden, führt der Autor diese im vierten Teil zur Genüge an. Ein weiteres bemerkenswertes Detail des Romans ist, dass es sich bei den Protagonisten, die am meisten essen, um Pierre Besuchow und Natascha Rostowa handelt. Letztere Romanfigur ist interessanterweise auch jene, die am häufigsten redet, wohingegen Besuchow derjenige ist, der am meisten zuhört.

Diese Untersuchungen sind weniger aus wissenschaftlichem Ehrgeiz denn aus Spaß angestellt worden. Es wird jedoch klar, welchen Nutzen man aus der Digitalisierung ziehen kann. „Früher hat niemand es gewagt, ein Wörterbuch mit der Sprache Tolstois zu erstellen, da es sich dabei um ein zu umfangreiches Unternehmen handelte. Heute aber ist das durchaus möglich", sagt Wladimir Tolstoi, Berater des russischen Präsidenten für kulturelle Anliegen und ebenfalls ein Nachfahre des Meisterschriftstellers. „Doch was wir heute alles bewerkstelligen und erreichen können, ist uns noch gar nicht klar", fügt er hinzu".

 

Tolstoi – ein „Ideologe des Internets"

Tolstoi spürte, dass alles auf der Welt miteinander verbunden war. In seinem Roman „Krieg und Frieden" gibt es eine Szene, in der Pierre Besuchow von Folgendem träumt: „Dieser Globus war eine lebende, wabernde Kugel, ohne feste Umrisse. Die gesamte Oberfläche der Kugel bestand aus Tropfen, die untereinander fest zusammengepresst waren, und diese Tropfen bewegten sich alle, verschoben sich und verschmolzen bald aus mehreren zu einem, teilten sich bald aus einem auf in viele." Man könnte meinen, dass Lew Tolstoi selbst für die moderne Internetgesellschaft eine sehr passende Metapher parat hatte.

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