Große Kunst aus dem Gulag

Einige politische Gefangene schafften in ihrer Gulag-Zeit große Werke. Foto: TASS

Einige politische Gefangene schafften in ihrer Gulag-Zeit große Werke. Foto: TASS

RBTH hat eine Liste der bekanntesten Kunstwerke, Musikstücke und literarischen Werke zusammengestellt, die in den sowjetischen Lagern entstanden und bis heute erhalten geblieben sind. Die Schaffung der Werke war mit großen Gefahren verbunden.

Unter den Tausenden politischen Gefangenen im Gulag hatten viele künstlerische Berufe, darunter Schriftsteller, Musiker und Maler, die heimlich ihr kreatives Werk fortsetzten. Sich künstlerisch zu betätigen, also zu zeichnen oder an literarischen Werken zu schreiben, war streng verboten. Ein Verbot konnte das kreative Schaffen freilich nicht unterbinden. RBTH hat eine Liste der bedeutendsten Kunstwerke, Musikstücke und literarischen Werke aus sowjetischen Lagern zusammengestellt.

„24 Präludien und Fugen“ für Klavier von Wsewolod Saderazki

Der Zyklus „24 Präludien und Fugen“ für Klavier wurde von Wsewolod Saderazki in den Jahren 1937 bis 1939 im Gulag in Kolyma geschrieben. „Er hat es geschafft, sein Werk auf dem, was es gerade gab, niederzuschreiben“, erinnert sich der Sohn des Komponisten. „Mein Vater hatte eine kunstvolle Handschrift, was ebenfalls dazu beitrug, das Werk zu erhalten.“ Manche der Papiere seien ihnen von Wächtern gegeben worden, die Saderazki als Erzähler schätzten. „Er war für sie wie ein Fernsehersatz.“ 75 Jahre nachdem der Zyklus geschrieben wurde, fand am 14. Dezember 2014 am Moskauer Konservatorium die Weltpremiere statt.

Gedichte und Versdramen von Aleksandr Solschenizyn

Alexander Solschnizyn auf der Bahnhof Rjasan-Pristan. Foto: Rossijskaja Gaseta

Die Romane „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ und „Der Archipel Gulag“, die dem Schriftsteller zu Weltruhm verhalfen, entstanden nach seiner Gefangenschaft im Gulag, die von 1945 bis 1953 währte. Im Lager gab es keine Möglichkeit, an großer Prosa zu arbeiten. Doch er schaffte es, im Verlies einige Gedichte und Dramen in Versen auf kleinen Papierfetzen aufzuschreiben oder – mithilfe selbst hergestellter Gebetsketten – auswendig zu lernen. Zu diesen Werken zählen unter anderem „Ostpreußische Nächte“, „Die Gefangenen“ und „Das Festmahl der Sieger“.

Solschnizyns Heft. Foto: Rossijskaja Gaseta

Wie Solschnizyn im fünften Teil von „Der Archipel Gulag“ schreibt, hatte er bis zum Ende seiner Gefangenschaft 12 000 Verszeilen im Kopf. Doch erst nach seinem 80. Geburtstag entschied er sich, sie zu veröffentlichen. „Sie waren damals mein Atem und mein Leben. Sie halfen mir, durchzuhalten“, erklärte er.

Die „Kolymaer Hefte" von Warlam Schalamow

Warlam Schalamow war zweimal in einem Lager inhaftiert: von 1929 bis 1932 und von 1943 bis 1951. Seine erste Gefangenschaft verbrachte er im Nordural und die zweite, sehr viel schlimmere, in Kolyma. Genau dort hatte er 1949 begonnen, jene Gedichte zu schreiben, die den „Kolymaer Heften“ zugrunde liegen. Nachdem er im Gefangenenkrankenhaus als Sanitätshelfer arbeiten konnte und nicht mehr die schwere Zwangsarbeit im Lager machen musste, bot sich ihm die Möglichkeit dazu. Als Solschenizyn sie 1956 in der Zeitung „Samisdat“ las, erzitterte er laut eigener Aussage „wie beim Treffen mit einem Bruder“. Auch Boris Pasternak schätzte Schalamows „Kolymaer Hefte“ sehr. Doch die daraufhin erschienenen grausamen und kompromisslosen „Erzählungen aus Kolyma“ machten ihn für die Literaturszene zu einem Fremden und Geächteten.

Robert Stilmarks Roman „Der Erbe aus Kalkutta“

Ein weiteres Werk aus einem Straflager ist „Der Erbe aus Kalkutta“ von Robert Stilmark, ein umfangreicher Roman über Piraten und Abenteurer des 18. Jahrhunderts. Die Umstände seiner Entstehung sind sehr ungewöhnlich. Er wurde von 1951 bis 1952 beim Bau der Polarkreiseisenbahn geschrieben. Der örtliche Kommandeur, ebenfalls ein Gefangener, jedoch ein Verbrecher und kein politisch Verfolgter, erfuhr, dass Stilmark vor dem Krieg für Literaturzeitschriften gearbeitet und im Ausland Literatur studiert hatte, und schlug ihm vor, statt der Zwangsarbeit einen spannenden, historischen Roman zu schreiben, um diesen unter seinem Namen Stalin zu schicken. So hoffte der Kommandeur, begnadigt zu werden. Den tatsächlichen Autoren wollte der „Auftraggeber“ nach der Vollendung des Romans einfach von seinen Zellengenossen umbringen lassen. Doch er hatte nicht damit gerechnet, dass Stilmark die Kapitel, bevor er sie aufschrieb, seinen Zellengenossen erzählte, denen der Atem stockte, wann immer sie die erstaunlichen Geschichten hörten – so wäre niemand bereit gewesen, Stilmark zu ermorden. Der Roman erschien schließlich 1958 – drei Jahre nach Stilmarks Befreiung – mit zwei Namen auf dem Umschlag, nämlich dem von Stilmark und dem seines „Auftraggebers“, der behauptete, der Koautor zu sein. Nach einigen Jahren wurde diese Ungerechtigkeit richtiggestellt.

„Rosa Mira“ („Die Weltrose“) von Daniil Andreew

Als Sohn Leonid Andreews, des berühmten russischen Schriftstellers des silbernen Zeitalters der russischen Literatur, wuchs Daniil Andreew in den Kreisen der künstlerischen Elite seiner Zeit auf und stach bereits in seiner Kindheit durch eine Neigung zur Mystik heraus. Während seiner Gefangenschaft zwischen 1947 und 1957 hatte er eine intensive, mystische Eingebung, die ihn zur Entwicklung einer eigenen religiös-philosophischen Lehre inspirierte. Vollständig kommt sie in „Rosa Mira“, dem Hauptwerk Andreews, zum Ausdruck. Das Buch steht in seiner Überzeugungskraft und Präzision den mystischen Gedichten William Blakes und dem Buch „Mormon“ von Joseph Smith in nichts nach. Zur Grundlage einer Religion konnte es allerdings nicht werden, weil eine legale Verbreitung der „Rosa Mira“ in der UdSSR keinesfalls möglich gewesen wäre. Die Schrift wurde erst 1991 erstmals veröffentlicht.

Die Briefe aus dem Lager von Pawel Florenskij

Die Briefe des Priesters Pawel Florenskij, die er von seiner Verhaftung 1933 bis zu seiner Erschießung 1937 seiner Frau, seinen Kindern und engen Freunden schrieb, wurden gesammelt und Ende der 1990er-Jahre in einem Buch zusammengefasst. Sie erschienen unter dem Titel „Eis und Algen. Briefe aus dem Lager 1933-1937“. Sie sind keine künstlerischen Werke im engeren Sinne, doch die Persönlichkeit dieses einzigartigen und vielseitigen Menschen, der Philosoph, Dichter, Gottesmann, Mathematiker und Biologe zugleich war, ist so besonders, dass selbst seine Briefe an Verwandte zu ganzen philosophischen Abhandlungen wurden. Faktisch sind sie sein Nachlass.

Miniaturbilder von Michail Sokolow

Dem Künstler Michail Sokolow gelang es in den Jahren 1916 und 1917 an den letzten Ausstellungen der legendären Vereinigung Mir Iskusstwa (zu Deutsch: „Welt der Kunst“), die von Aleksandr Benua und Sergei Djagilew gegründet worden war, teilzunehmen. Nach der Revolution war Sokolow einer der renommiertesten Künstler Moskaus, doch in den 1930er-Jahren wurde er marginalisiert, denn seine impressionistischen Werke entsprachen nicht den Vorstellungen des Sozialistischen Realismus. 1938 kam er dann in ein Lager im Gebiet Kemerowo, wo er weiterhin Miniaturen von Ansichten der Taiga und Porträts seiner Leidensgenossen auf kleine Zettel und manchmal auch Bonbonpapierchen zeichnete. Diese schickte er dann mit der Post nach Moskau, wo ihnen allgemeine Begeisterung entgegenkam. Die Miniaturen Sokolows aus seiner Zeit im Gulag sind heute der ganze Stolz eines Kunstmuseums in seinem Geburtsort Jaroslawl.

Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland

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