Solowezki-Inseln: Den Norden sehen und hören

RBTH
Nichts ist, wie es scheint – ein Dokumentarfilm über die Solowezki-Inseln und Obertongesang konfrontierten ein Berliner Publikum mit existenziellen Fragen. Anlass war die Deutschland-Premiere des RTBH-Films „The memory of the Solovetsky islands“ in der Galerie „Quadrat“.

Mit einem besonderen künstlerischen Programm veranstaltete RBTH zusammen mit der Galerie „Quadrat“ in Berlin am vergangenen Freitag einen Kinoabend. Gezeigt wurde zum ersten Mal in Deutschland die RBTH-Kurzdokumentation „Solovki remember“, dazu präsentierten zwei Berliner Künstler – Gisbert Schürig und Franz J. Hugo – Kehl- und Obertongesang in der Tradition der Tuwiner und Inuit. Eine derart exotische Mischung dem verwöhnten Berliner Publikum zu servieren, war ein riskantes Konzept, das zur Freude der Veranstalter jedoch aufging.

Heilige und Verbrecher

Die im Deutschen „Solowezki“ genannten Inseln liegen im Weißen Meer im Nordwesten von Russland. Mit 1 000 Kilometern Entfernung ist Helsinki zwar näher als Moskau (1 400 Kilometer). Doch so wie überall in Russland – einem Land der Klöster und Straflager – treffen auch hier Heilige und Verbrecher aufeinander. Und wohl mehr Heilige, die als Verbrecher verurteilt wurden.

Die Solowezki-Inseln sind russische Geschichte in ihrer komprimiertesten Form, ambivalent bis zum Äußersten. Dem RBTH-Team rund um Regisseur Pawel Inschelewskij ist es gelungen, diese Ambivalenz in dem halbstündigen Film zu zeigen – langsame Kamerafahrten über idyllische Landschaften, ein Mönch, der seinen Kater und seinen Garten pflegt, eine Museumsangestellte, die unermüdlich von der schwarzen Seite dieser idyllischen Landschaft berichtet, ein Fischer, der noch immer der Sowjetunion nachtrauert. Kleine Geschichten, die sich ergänzen. Stimmen, die endlich gehört werden wollen.

Verpasste Alternativen

Schon zu Zarenzeiten waren die Solowezki-Inseln ein Gefängnis – nicht für Haftstrafen auf bestimmte Zeit, sondern für unbefristete Verbannungen mit dem Ziel der „Besserung“ des Verurteilten. Die Besserung dauerte manchmal Jahrzehnte. Zu Sowjetzeiten wurde das kleine Insel-Gefängnis ausgebaut und mit Tausenden neuen Opfern befüllt. „Jedes verlorene Leben ist eine Alternative, die uns abhandengekommen ist“, sagt die Museumsmitarbeiterin im Film, die erklärend anfügt: „Wir können uns gar nicht vorstellen, wie die Welt aussehen würde, hätten alle diese Menschen überlebt.“  

Das normale Leben kehrte erst in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts auf die Insel zurück – eine kleine Fabrik, die Algen verarbeitet, Fischer, Mönche, Fremdenführer. Der Film erlaubt Einblicke in das Leben dieser Menschen, man bekommt ein Gefühl dafür. Das Leben auf den Inseln geht weiter, die Vergangenheit lässt allmählich los.

Singen und Fahrrad fahren

„Ich mache jeden Tag Musik und singe beim Fahrradfahren – allerdings so leise, dass es den Straßenverkehr nicht stört“, erzählt Franz J. Hugo, der erst vor wenigen Jahren angefangen hat, Kehlgesang zu praktizieren, doch schon eigene Shows macht. „Ich fühle mich eben als Musikinstrument.“ Der Gesang des Berliner Künstlers ist reine Improvisation – ein Schamanengebrumm, ein Brüllen ohne Anfang und Ende. Er lässt sich treiben und mit ihm das Publikum.

Foto: Galerie QuadratFoto: Galerie Quadrat

Der studierte Musiker Gisbert Schürig hat seine Vorliebe für den westlichen Obertongesang entdeckt. Bei dieser faszinierenden Technik werden einzelne Obertöne so wiedergegeben, dass der Eindruck von Mehrstimmigkeit entsteht. Ein Konzert der legendären tuwinischen Band Huun-Huur-Tu war seine Offenbarung – gleich vom ersten Ton an war Schürig beflügelt. Das will er auch können, dachte er, und so geschah es – nun begeisterte er im „Quadrat“ das Publikum mit der ganzen Bandbreite seines Könnens, indem er verschiedene Stile demonstrierte.

„Meine Kompositionen erzählen keine Geschichten, aber sie haben ein Thema: zum Beispiel die Relation zwischen Einheit und Vielfalt oder zwischen einfach und kompliziert“, erzählt Schürig. Der Sänger sieht seine Kunst als Philosophie: „Wir hören einen Ton und gleichzeitig viele Töne, das bedeutet, es gibt verschiedene Perspektiven. Dinge sind also nicht so, wie sie scheinen.“ Im Übrigen ein gutes Motto, das den Abend wohl kaum besser beschreiben könnte.

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